Die Loewin von Mogador
haben.“
Sie setzte Tom auf dem Boden ab, und er nahm
ihre Hände. „Viel zu lange“, erwiderte sie leise.
Seine dunkelbraunen Augen glänzten. „Wie geht
es dir?“
Sie dachte an die Gardisten des Kaids, die
ihr gesamtes Bargeld beschlagnahmt hatten, an Sara, die sich mit Ausreden
geweigert hatte, ihr zu helfen, und an ihre Söhne, die jeden Tag fragten, wann
ihr Vater von seiner Reise zurückkäme, und zuckte mit den Schultern. Über all
diese Dinge wollte sie nicht sprechen.
Hinter ihnen ertönten Schritte. Rasch zog
Sibylla ihre Hände zurück. Nadira stand am Eingang der Küche. „Ich habe mir
erlaubt, im Esszimmer für Sie und Monsieur Rouston zu decken, Herrin. Der Koch
hat eine Tajine aus Kichererbsen, Tomaten und Zwiebeln zubereitet.“
„Seit Benjamins Verhaftung ist unser
Speisezettel einfacher geworden“, sagte Sibylla entschuldigend zu André, als
sie sich an dem langen Holztisch gegenübersaßen.
Die aufgeschlitzten Polster der
Esstischstühle hatte er bereits entdeckt, und sie hatte ihm erzählt, dass die
Gardisten des Kaids das Haus nach Geld durchsucht und auch den letzten
Kupferfalus mitgenommen hatten.
„Es schmeckt ausgezeichnet“, tröstete André
sie mit vollem Mund. „Verzeih meine Manieren, aber ich habe seit heute Morgen
nur etwas Tee und Fladenbrot zu mir genommen!“
Sie nickte und wartete, bis er seinen Teller
geleert hatte. Dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten: „Was bringst du
für Neuigkeiten vom Sultan?“
Er faltete seine Serviette zusammen. „Die
gute Nachricht lautet: Du bekommst die Audienz gewährt, allerdings erst im
Herbst, denn der Sultan wird den Sommer in seinem Palast in Fès verbringen.“
„So lange will er Benjamin noch festhalten
und mich warten lassen?!“, fuhr Sibylla auf.
„Ich fürchte, im Moment hat er das Zepter in
der Hand, auch wenn Drummond-Hay inzwischen seine Protestnote an ihn geschickt
hat. Seine Majestät erklärte mir unmissverständlich, dass er von Benjamins
Schuld überzeugt sei. Er sagte, ihm lägen unbestechliche Beweise vor, und
genauso deutlich machte er mir klar, dass Christen, die entgegen seinen
Gesetzen mit Sklaven handeln, dem Tod durch Enthaupten ins Auge blicken.“
Sibylla war entsetzt. „Das kann nicht sein
Ernst sein!“
„Das lässt sich im Moment schwer sagen“,
erwiderte André. „Ich kenne Abd Er Rahman schon einige Jahre und weiß, dass er
im Gegensatz zu einigen seiner Vorfahren kein blutrünstiger Herrscher ist. Aber
er hat innenpolitische Schwierigkeiten. Viele Berberfürsten sehen die
Anwesenheit von Europäern im Land nicht gern und drängen ihn, ein Exempel zu
statuieren.“
„Aber Benjamin ist Engländer, nicht
Marokkaner!“, begehrte Sibylla auf. „Ich werde einen Brief an die Königin schreiben!“
André musterte sie mit einem seltsamen
Gesichtsausdruck. Sie errötete. „Er ist der Vater meiner Kinder. Sie sollen
nicht in dem Glauben aufwachsen, dass ihr Vater als Verbrecher und
Menschenhändler verurteilt wurde.“
„Spekulationen nützen jetzt nichts. Du musst
dich bis September gedulden“, gab André nach einer kurzen Pause zurück. „Und
wenn alles nichts hilft, musst du versuchen, deinen Mann freizukaufen. Das wird
allerdings ein teures Vergnügen, denn Toledano behauptet, dass Benjamin zwei-
bis dreitausend Sklaven verschifft haben könnte.“
Sibylla starrte ihn entsetzt an. „Glaubt Abd
Er Rahman wirklich, dass Samuel Toledano mit der ganzen Sache nichts zu tun
hat? Er ist Benjamins Geschäftspartner und spielt eine ziemlich undurchsichtige
Rolle, wie ich finde. Wird er gar nicht zur Rechenschaft gezogen?“
„Doch.“ André grinste. „Mir ist zu Ohren
gekommen, dass er auf seine Kosten das Hafenbecken von Mogador ausbaggern
lässt. Darüber hinaus wird ihm wohl nichts geschehen. Er ist dem Herrscher viel
zu kostbar, als dass er ihn größeren Schaden nehmen lässt.“
„Hör auf!“ Sie hielt sich die Ohren zu. „Ist
denn in diesem Land jeder durch und durch korrupt?“
„Auf deinen Mann scheint das zumindest
zuzutreffen“, rutschte es André heraus. Er war eifersüchtig, dass die Frau, die
er liebte, so sehr für ihren zwielichtigen Ehemann kämpfte. Als er Sibyllas
entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er widerwillig hinzu:
„Entschuldige, das war taktlos.“
„Wenn ich nur endlich eine Besuchserlaubnis
vom Kaid bekommen würde!“, seufzte Sibylla. „Ich muss Benjamin so viel fragen.“
Sie benötigte Auskünfte zu Handelsgeschäften. Viel
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