Die Loewin von Mogador
die die Berber nicht mitgenommen hatten, ein Abendessen zuzubereiten.
Sibyllas Söhne hatten ihre Murmeln gefunden und spielten im Innenhof.
„Mummy! Johnny hat meine schönste Murmel in
das Loch vor Papas Sonnenuhr geworfen, und jetzt ist sie weg!“ Tom stand im
Türrahmen von Sibyllas Zimmer und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Kann man euch nicht einmal eine halbe Stunde
allein lassen?“ Sibylla kniete, umgeben von Bücherstapeln, vor dem einzigen
heilen Regal in ihrem Salon. Diejenigen ihrer geliebten Bücher, die die
Zerstörungswut der Haha überlebt hatten, sortierte sie wieder auf die
Regalbretter, die beschädigten legte sie in eine Kiste – nicht um sie
wegzuwerfen, sondern um sie zu kleben und neu binden zu lassen.
„Aber es ist doch meine Lieblingsmurmel!“,
klagte Tom.
Sibylla seufzte und folgte ihrem Sohn in den
Hof. Johnny lag auf dem Bauch vor dem Kanonenloch und spähte hinein. „Sie ist
ganz tief gefallen und dann weggerollt“, erzählte er bekümmert.
„Lass mich mal, Schatz.“ Sie hockte sich
neben ihn und schaute ebenfalls in das Loch. Die Ziegel, aus denen Benjamin das
Fundament gebaut hatte, waren großteils zerstört, der Sockel der Sonnenuhr
hatte sich an einer Seite aus dem Unterbau gehoben. Irgendwo dort hinein war
Toms Murmel gerollt. Sibylla seufzte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich
wie ihr Sohn auf den Bauch zu legen und nach der kleinen Glaskugel zu angeln.
Zentimeter für Zentimeter tastete sie den Grund ab, drehte Steine um und wühlte
in der Erde – ohne Erfolg. Gerade als sie ihre Hand herausziehen wollte, spürte
sie eine Ausbuchtung im Fundament. Auch hier waren mehrere Ziegel aus dem
Erdreich gebrochen. Vorsichtig tastete sie sich in die Öffnung vor, und
berührte etwas Kühles, Glattes, Weiches – Leinen. Sie tastete weiter und
stellte fest, dass es sich um einen kindskopfgroßen Beutel handelte, in dem es
leise klimperte, wenn sie daran zupfte. Sie fand die Schnur, die den Beutel
verschloss, und ließ die Hand ins Innere gleiten.
Das ist ja Geld, dachte sie verblüfft. Sie
nahm eine der Münzen und zog ihren Arm vorsichtig zurück.
„Hast du die Murmel, Mummy?“ Tom hüpfte von
einem Fuß auf den anderen.
„Das nicht, aber ...“ Sie öffnete die Faust –
und sog scharf die Luft ein.
„Was ist das, Mummy?“, fragte Tom. Auch
Johnny beugte sich neugierig vor und stellte stirnrunzelnd fest: „Das ist nicht
Toms Murmel.“
Sibylla starrte auf die gelblich schimmernde
Münze in ihrer Handfläche. Vorsichtig wischte sie mit dem Zeigefinger der
anderen Hand ein paar Erdkrumen herunter, aber sie hatte bereits erkannt, dass
es sich um einen englischen Sovereign handelte, eine sehr wertvolle Münze, die
einen hohen Goldgehalt aufwies.
Aber wie kam ein englischer Gold-Sovereign in
den Boden unter Benjamins Sonnenuhr? Sie drehte die Münze zwischen zwei Fingern
hin und her und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Von Mr. Fisher, dem
vorigen Bewohner, konnte sie nicht stammen, denn die Münze trug die Jahreszahl
1839, war also ganz neu. Sie musste Benjamin gehört haben, genau wie die
anderen Münzen im Beutel. Aber wieso hatte er sie unter seiner Sonnenuhr
vergraben?
Weil er nicht wollte, dass irgendjemand von
diesem Geld erfährt, gab sie sich selbst die Antwort.
Sie untersuchte das Loch noch einmal. Dort,
wo sie den Beutel gefunden hatte, entdeckte sie einen Hohlraum, ungefähr drei
Hand hoch, eine Armlänge breit und eine Elle tief. Als sie weitertastete,
stellte sie fest, dass der ganze Hohlraum mit prall gefüllten Säckchen
vollgestopft war. Der Vorwurf, dass Benjamin neben seiner Tätigkeit für die
Reederei Spencer noch andere Geschäfte gemacht hatte – schreckliche
verachtenswerte Geschäfte wie Menschenhandel –, erschien ihr nun in einem ganz
neuen Licht.
Sibylla begriff plötzlich, warum ihr Mann bei
ihrem letzten Treffen so nervös geworden war, als sie ihm von der
Hausdurchsuchung des Kaids berichtet hatte. Warum er unbedingt wissen wollte,
wo die Schergen gesucht und wie viel Geld sie gefunden hätten. Sie verstand
jetzt auch seine Verschwendungssucht – Benjamin war plötzlich reicher geworden,
als er sich je erträumt hatte, und das hatte er der ganzen Welt zeigen wollen.
Aber gleichzeitig hatte er seine Frau belogen und betrogen, wie sie noch nie
von einem Menschen belogen und betrogen worden war. Sie hatte für sein Leben
gekämpft und seinen Tod betrauert, und er hatte sie getäuscht.
Als es Nacht
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