Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
Vom Netzwerk:
war und alle schliefen, kam
Sibylla zurück, verstohlen wie eine Diebin im eigenen Haus.
    Sie zog so viele kleine Säcke aus dem
Hohlraum und packte sie in den mitgebrachten Korb, dass sie mehrmals zwischen
ihrem Schlafzimmer und dem Hof hin und her laufen musste.
    Außerdem fand sie eine lederne Mappe –
fleckig und feucht von der Erde –, in der Benjamin genaue Aufzeichnungen über
seine schändlichen Geschäfte gemacht hatte. So erfuhr sie nicht nur, wie viele
Sklavenfahrten die Queen Charlotte unternommen hatte, sondern auch, wie viele
Schwarze sie jeweils an Bord genommen hatte, wie viele während der Überfahrt
gestorben waren, was ihr Mann für die Verpflegung der Schwarzen bezahlt, wer
Bestechungsgelder kassiert und schließlich in welchen karibischen Häfen Kapitän
Brown die Menschen verkauft hatte.
    Eingeschlossen in ihrem Zimmer, im
flackernden Schein einer Öllampe, las Sibylla mit wachsendem Entsetzen diese
Aufzeichnungen des Schreckens. Es fiel ihr sehr schwer, zu glauben, dass ihr
Ehemann, der Vater ihrer Kinder, in den letzten drei Jahren rund zweitausend
Menschen in die Sklaverei verkauft hatte. Hatte sie ihn wirklich so schlecht
gekannt, oder war er einmal ein anderer gewesen, bis die Gier nach immer mehr
Reichtum ihn verändert hatte?
    Mit zitternden Fingern begann sie, das Geld
zu zählen. Es waren genau 16625 englische Gold-Sovereigns, ein ungeheures
Vermögen, verdient mit dem Elend unzähliger Menschen! Sie betrachtete den
Fußboden ihres Schlafzimmers, der voller Münztürmchen stand, und verspürte zum
ersten Mal fast so etwas wie Erleichterung, dass Benjamin tot war. Doch die
Entscheidung, was mit seinem blutigen Vermögen geschehen sollte, nahm ihr das
Schicksal nicht ab.
    Ängstlich lauschte sie auf Geräusche im Haus,
doch sie hörte nur ihr eigenes leises Atmen. Sie wollte dieses Geld nicht. Es
hatte unzähligen Menschen die Freiheit geraubt und Unglück über ihre Familie
gebracht. Sogar jetzt noch schwebten sie alle in größter Gefahr, wenn
irgendjemand von diesem Geld erfuhr. Der Kaid würde sie schneller verhaften, als
sie sich vorstellen konnte. In England würde sie sich vor Gericht für Benjamins
Schandtaten verantworten müssen. Ein Prozess würde gewaltige öffentliche Wellen
schlagen, der Reederei Spencer unabsehbaren Schaden zufügen und für immer einen
Schatten auf die Zukunft ihrer Söhne werfen. Und es gab Menschen, die morden
würden, um an diesen Schatz zu kommen!
    Sibyllas Kopf schmerzte. Die halbe Flasche
Whisky in Benjamins Schreibtisch fiel ihr ein. Sie hatte noch nie Whisky
getrunken. Das Stärkste, was eine Dame trinken durfte, war ein Gläschen
Portwein, aber das war ihr jetzt egal. Sie brauchte dringend etwas, um ihre
Nerven zu beruhigen.
    Eine Weile später saß sie wieder in ihrem
Schlafzimmer. „Niemals!“, schwor sie sich, während sie die Liste mit Benjamins
Aufzeichnungen an die Flamme der Kerze hielt und zusah, wie sie zu Asche
verkohlte. „Niemals darf irgendjemand etwas von diesem Schatz erfahren!“
     
    Im Morgengrauen stand Sibylla am Ufer des
Meeres, weit hinter dem Hafen, wo es nur sanft gewellte, von Halfagrasbüscheln
bewachsene Dünen gab. Über dem Ozean war es noch dunkel. Sie hörte das leise
Schmatzen und Platschen des Wassers und betrachtete die sanft auf den Wellen
schaukelnden Lichter der Fischerboote, die vom nächtlichen Sardinenfang
zurückkehrten. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten in dem Haus, wo alles sie an
Benjamin und die schrecklichen Geschäfte erinnerte, die er gemacht hatte. Aber
sie spürte, wie sie hier ein wenig zur Ruhe kam.
    „Allahu akbar!“ Feierlich durchbrach der Ruf
des Muezzins die Stille. Über der Stadt kündete ein schmaler heller Streifen
vom Ende der Nacht.
    Sibylla legte den Kopf in den Nacken und
atmete die frische salzige Luft tief ein. Ich sollte das Geld in den Atlantik
werfen, überlegte sie und verspürte plötzlich den unwiderstehlichen Drang, zu
lachen. Wahrhaftig, jetzt hatte sie das aufregende Leben, das sie sich als
junges Mädchen in London gewünscht hatte! Wie naiv sie doch gewesen war!
    Sie wollte Benjamins Goldschatz nicht für
sich verwenden, aber sie würde ihn auch nicht im Atlantik versenken. Vorläufig
hatte sie das Geld unter einigen Bodendielen in ihrem Schlafzimmer versteckt,
die die Haha in ihrer Zerstörungswut herausgehebelt hatten. Darüber hatte sie
ihr Bett geschoben. Kein ideales Versteck, aber ihr war nichts Besseres eingefallen.
    Der Muezzin war verstummt. Es wurde

Weitere Kostenlose Bücher