Die Löwin
ehrgeizig und erwartete eine angemessene Anerkennung seiner Erfolge. In der jetzigen Situation vermochten ein persönliches Schreiben Seiner Heiligkeit, eine neue Würde und die Herrschaft über eine Stadt oder einen Landstrich ihn vielleicht doch dazu zu bewegen, Visconti den Rücken zu kehren. Von Krieg und Intrigen verstand der Marchese mehr als jeder andere päpstliche Würdenträger, und dieses Wissen konnte eine scharfe Waffe gegen die Viper von Mailand darstellen.
3.
N och lange nachdem sein Sohn mit einer ansehnlichen Begleitmannschaft aufgebrochen war, saß Olivaldi hinter der Brüstung der Turmterrasse, starrte blicklos in die Ferne und sann angestrengt nach. Während seine Gedanken so eifrig wie eine hungrige Spinne an einem neuen Netz webten, rief er nach seinem Sekretär, ließ sich alle Briefe und Berichte bringen, die er von Freunden aus Mailand und anderen Städten erhalten hatte, und las die wichtigsten genau durch. Als der Sonnenball hinter den Monte Vigese gesunken war und die Dämmerung sich wie ein grauer Schleier um ihn legte, erhob der Marchese sich mit einer energischen Bewegung, die nicht zu seinem Alter passen wollte, und stieg hinab in ein Gemach, in dem Dinge aufbewahrt wurden, die er nicht mehr benötigte, aber auch nicht wegwerfen wollte. Erst als er den Deckel des ersten Kastens anhob, merkte er, dass er kaum noch etwas erkennen konnte, und rief einen Diener, der ihm das Innere der Behälter mit einer Lampe ausleuchten sollte. In deren Schein durchwühlte Olivaldi den Inhalt mehrerer großer Truhen, bis er einen flachen, in Leinen geschlagenen Gegenstand fand, der den Boden des Kastens bedeckte und ein nicht unbeträchtliches Gewicht hatte. Als er die Hülle entfernte, kam das Bild eines jungen Mädchens zum Vorschein.
Olivaldi atmete scharf aus, als er nach mehr als zwanzig Jahren in das Antlitz seiner Tochter Margerita blickte, und er fragte sich, was sie seiner Enkelin vererbt haben mochte. Die Schönheit ihrer Mutter wünschte er dem Mädchen durchaus, allerdings nicht ihren Charakter oder ihr Temperament. Margerita war schon als Kind eine Teufelin gewesen, und sie hatte den Tedesco, den sie später geheiratet hatte, gewiss nur deshalb becirct, um der arrangierten Ehe mit Molterossas Sohn zu entgehen.
»Ich hoffe, die Tochter ist besonnener als die Mutter!« Noch während er es sagte, wusste der Marchese, wie er sich entschieden hatte. Er drehte sich um, drückte dem Diener das Bild in die Hand, ohne darauf zu achten, dass der Mann durch die Lampe behindert war, und wies auf die Tür.
»Häng dieses Porträt in der großen Halle anstelle des Bildnisses der heiligen Ursula auf. Die Heilige bring in die Burgkapelle. Der Kaplan wird schon wissen, wo er Platz für sie findet. Außerdem wünsche ich meine Räume hell ausgeleuchtet. Beeile dich und lasse dem Grafen d’Abbati ausrichten, ich wolle ihn auf der Stelle sprechen!«
Der Diener hätte seinen Herrn am liebsten gefragt, wie er all diese Aufträge gleichzeitig erledigen sollte, doch er wahrte eine ausdruckslose Miene, da er sich nicht den Unmut des Marchese zuziehen wollte, und schritt nach einer misslungenen Verbeugung wortlos davon. Zu seiner Erleichterung erwartete der Kastellan ihn bereits im Nebenraum, und er konnte die Anweisungen seines Herrn an den Mann weitergeben.
Dieser entschied in gewohnter Schnelligkeit, wer was zu erledigen hatte. »Kümmere du dich um die Bilder! Ich lasse Licht herbeischaffen und werde den Conte persönlich holen.« Nur wenige Augenblicke später hallte die Stimme des Kastellans durch die Burg. Sofort hasteten mehrere Diener mit Lampen und Kerzenhaltern herbei, und als der Marchese seine Gemächer betrat, empfing ihn helles Kerzenlicht und sein Leibdiener erwartete ihn mit einem Becher Wein.
Der Sekretär, der sich ebenfalls bereithielt, trug sein Schreibzeug wie einen Schild vor sich her. »Der Conte d’Abbati wird sofort erscheinen«, erklärte er, noch während der Genannte bereits eintrat.
Rodolfo wirkte abgehetzt, der Kastellan hatte ihn von seinen Männern weggeholt, die ihre Zelte außerhalb der Burg aufgeschlagen hatten. »Euer Gnaden haben nach mir verlangt?«
Olivaldi musterte den jungen Mann, als sei er ein Fremder. Kann ich ihm wirklich trauen?, fragte er sich. Er selbst hatte sich hauptsächlich aus verletztem Stolz auf die Seite Gian Galeazzo Viscontis geschlagen, der junge Söldnerhauptmann aber verehrte und vergötterte den Mailänder Herzog mit dem Feuer seiner Jugend.
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