Die Loge
könne, wenn sie nicht richtig gepflegt werde. In den vergangenen zweitausend Jahren hätten die Geschwister allzuoft gestritten – mit katastrophalen Folgen für die Juden. Er sprach ohne Manuskript, sogar ohne Notizen. Seine Zuhörer lauschten gebannt.
»Im April 1978 hat mein Vorgänger, Papst Johannes Paul II., diese Synagoge besucht, um die Kluft zwischen unseren Gemeinden zu überbrücken und einen Heilungsprozeß einzuleiten. In den seither vergangenen Jahren ist viel erreicht worden.« Als der Papst eine Pause machte, lastete die Stille schwer auf allen Anwesenden. »Aber uns bleibt noch viel zu tun.«
In der Synagoge brauste herzlicher Beifall auf. Auch die Kirchenfürsten applaudierten. Monsignore Donati stieß Gabriel an und beugte sich zu ihm hinüber. »Achten Sie auf die Kardinäle«, flüsterte er ihm zu. »Mal sehen, ob sie in ein paar Minuten auch noch klatschen.«
Gabriel beobachtete jedoch weiter die Menge, während der Papst fortfuhr. »Meine Brüder und Schwestern, Gott hat Johannes Paul II. zu sich gerufen, bevor er sein Werk vollenden konnte. Ich habe die Absicht, dort weiterzumachen, wo er aufhören mußte. Ich werde seine Last schultern und sie für ihn heimtragen.«
Wieder wurde der Papst von Beifall unterbrochen. Brillant! dachte Gabriel. Er stellte seine Initiative nicht als etwas radikal Neues, sondern lediglich als Fortführung des von dem Polen hinterlassenen Erbes dar. Gabriel erkannte, daß dieser Mann, der sich gern als einfacher venezianischer Geistlicher ausgab, ein gewiefter Taktiker und cleverer Politiker war.
»Die ersten Schritte auf dem Weg zur Versöhnung waren leicht im Vergleich zu den schwierigen, die noch vor uns liegen. Die letzten Schritte werden die schwierigsten von allen sein. Unterwegs können wir in Versuchung geraten, umzukehren. Aber das dürfen wir nicht. Wir müssen diesen Weg zu Ende gehen – für Juden und Christen gleichermaßen.«
Monsignore Donati berührte Gabriels Arm. »Jetzt wird's spannend.«
»Unsere Religionen lehren beide, daß Vergebung nicht leicht zu erlangen ist. Wir Katholiken müssen eine aufrichtige Beichte ablegen, wenn wir Absolution erhalten wollen. Haben wir einen Mord verübt, können wir nicht beichten, den Namen des Herrn mißbraucht zu haben, und erwarten, auf diese Weise Vergebung zu erlangen.« Der Papst lächelte, und in der Synagoge war leises Lachen zu vernehmen. Gabriel sah, daß einige Kardinäle diese Bemerkung nicht komisch zu finden schienen. »An Jom Kippur, dem Versöhnungstag, müssen Juden jene aufsuchen, denen sie Unrecht getan haben, ihre Sünden aufrichtig bekennen und um Vergebung bitten. Wir Katholiken müssen das gleiche tun. Aber wenn wir unsere Sünden aufrichtig bekennen wollen, müssen wir zuerst die Wahrheit kennen. Deshalb bin ich heute hier.«
Der Papst machte eine kurze Pause. Gabriel beobachtete, daß er kurz zu Monsignore Donati hinübersah, als sammle er seine Kräfte, als wolle er sich vergewissern, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Monsignore Donati nickte kaum merklich, und Papst Paul VII. wandte sich wieder dem Publikum zu. Das tat auch Gabriel, aber aus einem ganz anderen Grund. Er hielt Ausschau nach einem Mann mit einer Waffe.
»An diesem Morgen in dieser prächtigen Synagoge kündige ich eine neue Untersuchung der Beziehungen der katholischen Kirche zum jüdischen Volk und dem Verhalten der Kirche im Zweiten Weltkrieg an – jener dunkelsten Periode der jüdischen Geschichte, in der sechs Millionen Menschen ihr Leben in den Feuern der Schoa verloren. Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen dieser Schreckenszeit werden diesmal alle Dokumente im Geheimarchiv des Vatikans unabhängig vom Jahr ihrer Entstehung einer Historikerkommission zur Einsichtnahme und Auswertung zugänglich gemacht.«
Das vatikanische Pressekorps befand sich in heller Aufregung. Einige Journalisten sprachen flüsternd in ihre Handys; die übrigen machten sich in fliegender Hast Notizen. Rudolf Gertz saß mit verschränkten Armen und auf die Brust gesenktem Kinn da. Seine Heiligkeit hatte offenbar versäumt, seinem Pressechef vorab mitzuteilen, welche Sensation er heute anzukündigen gedachte. Der Papst hatte sich bereits auf unerforschtes Gebiet vorgewagt. Jetzt war er im Begriff, noch weiter zu gehen.
»Der Holocaust war kein katholisches Verbrechen«, fuhr er fort, »aber allzu viele Katholiken – Laien wie Kirchenmänner – waren an den Judenmorden beteiligt, als daß wir diese Tatsache ignorieren
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