Die Loge
postiert. Dazu kam die erstaunliche Tatsache, daß er überhaupt in diesem Zimmer lag, denn die Suite im zehnten Stock der Gemelli-Klinik ist für einen einzigen Mann reserviert: den Oberhirten der römisch-katholischen Kirche.
In den ersten vier Tagen kamen nur zwei Besucher: eine hochgewachsene Schönheit mit dichtem schwarzem Haar und dunklen Augen und ein alter Mann mit wie aus Wüstengestein gehauenen Gesichtszügen. Die junge Frau sprach italienisch, der alte Mann nicht. Das Pflegepersonal hielt ihn – irrtümlicherweise, wie sich herausstellen sollte – für den Vater des Patienten. Die beiden quartierten sich im Zimmer mit den Sitzmöbeln ein und gingen nicht wieder fort.
Der Alte schien sich Sorgen wegen der rechten Hand des Patienten zu machen, was dem Pflegepersonal eigenartig erschien, weil seine sonstigen Verletzungen viel schwerer wogen. Ein Radiologe wurde bemüht. Röntgenaufnahmen wurden gemacht. Eine Orthopädin stellte fest, daß die Hand den Unfall bemerkenswert unversehrt überstanden hatte; ihr fiel jedoch eine tiefe Narbe im Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger auf – eine nie richtig verheilte ältere Verletzung.
Am fünften Tag wurde ein Betstuhl neben das Krankenbett gestellt. Papst Paul VII. traf in der Abenddämmerung ein, begleitet nur von Monsignore Donati und einem einzelnen Gardisten. Eine Stunde lang kniete er mit zum Gebet geschlossenen Augen neben dem Bewußtlosen, dann streckte er eine Hand aus und streichelte die Rechte des Patienten.
Als der Papst sich erhob, fiel sein Blick auf das große filigran geschnitzte Kruzifix über dem Bett. Er starrte es einige Sekunden lang an, bevor er sich bekreuzigte. Dann beugte er sich zu Monsignore Donati hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Der Geistliche beugte sich über das Krankenbett und nahm vorsichtig das Kruzifix von der Wand.
Vierundzwanzig Stunden nach dem Besuch des Papstes begann sich die rechte Hand des Patienten zu bewegen. Sie machte immer wieder dieselbe Bewegung: ein Tupfen, auf das drei rasche Striche folgten. Tupfen, streichen, streichen, streichen … Tupfen, streichen, streichen, streichen …
Innerhalb des Ärzteteams löste diese Entwicklung lange Debatten aus. Einige taten sie als Krampf ab. Andere fürchteten, sie sei die Folge eines Anfalls. Die junge Frau mit den langen Locken erklärte den Ärzten, hier liege weder ein Krampf noch ein Anfall vor. »Er malt nur«, versicherte sie ihnen. »Sie werden sehen, er kommt bald wieder zu Bewußtsein.«
Am folgenden Tag, genau eine Woche nach seiner Einlieferung, kam der namenlose Patient für kurze Zeit zu sich. Langsam schlug er die Augen auf, blinzelte ins Sonnenlicht und starrte dem Alten fragend ins Gesicht, als erkenne er ihn nicht wieder.
»Ari?«
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«
»Mir tut alles weh.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zum Fenster hinüber. »Jeruschalajim?«
»Rom.«
»Wo?«
Der Alte sagte es ihm. Der Verletzte lächelte schwach unter der Sauerstoffmaske.
»Wo ist … Chiara?«
»Sie ist hier. Sie war die ganze Zeit hier.«
»Hab ich … ihn erwischt?«
Doch noch bevor Schamron antworten konnte, schloß Gabriel erneut die Augen und war nicht mehr ansprechbar.
37
V ENEDIG
Es sollte einen Monat dauern, bis Gabriel soweit wiederhergestellt war, daß er nach Venedig zurückkehren konnte. In Cannaregio mieteten sie sich ein schmales Haus am Kanal mit vier Etagen und einem winzigen Bootssteg, an dem ein Ruderboot befestigt war. Die von zwei, üppig mit Geranien bepflanzten Terrakottagefäßen flankierte Haustür führte auf einen stillen Innenhof hinaus, der nach Rosmarin duftete. Das von einer obskuren Elektronikfirma aus Tel Aviv installierte Sicherheitssystem hätte sogar der Accademia alle Ehre gemacht.
Gabriel war außerstande, die Restaurierung von Bellinis Madonna fortzuführen. Er sah weiterhin nur verschwommen und konnte die Augen nicht lange offen halten, ohne Schwindel zu verspüren. In den meisten Nächten wurde er von hämmernden Kopfschmerzen geweckt. Als Francesco Tiepolo erstmals seinen Rücken sah, fand er, Gabriel sehe wie ein Mann aus, der ausgepeitscht worden war. Tiepolo appellierte an den Verwalter der venezianischen Kirchen, die Wiedereröffnung der Kirche San Zaccaria um einen Monat zu verschieben, damit sich Signor Delvecchio von seinem bedauerlichen Motorradunfall erholen konnte. Der Verwalter schlug seinerseits vor, Tiepolo solle selbst aufs Gerüst klettern
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