Die Loge
klar, daß die schwere Maschine nicht rechtzeitig zum Stehen kommen würde. Also warf er sich nach links und zog das Motorrad aufs Pflaster. Sein Kopf knallte auf die Pflastersteine. Als er über die Straße schlitterte, erlitt er großflächige Hautabschürfungen. Irgendwann sah er, wie sich das Motorrad in der Luft überschlug.
Gabriel landete auf dem Körper der Frau und starrte in ein schönes, lebloses Augenpaar. Er hob den Kopf und sah den Leoparden die Straße hinaufrasen und vor einem Kirchturm abbiegen.
Dann verlor er das Bewußtsein.
Im allgemeinen Chaos auf dem Petersplatz achtete niemand auf den alten Mann, der langsam über das im Lauf der Zeit glattgeschliffene Pflaster schritt. Er warf einen Blick auf einen sterbenden Gardisten, dessen farbenprächtige Renaissancetracht sich blutrot verfärbt hatte. Er blieb kurz neben dem Leichnam eines jungen Carabinieres stehen. Er sah eine junge Amerikanerin, die sich hemmungslos schluchzend an ihre Mutter klammerte. In wenigen Minuten würde sich das Entsetzen vervielfachen, wenn die Nachricht von der Ermordung des Kardinals die Runde machte. Das Pflaster des Petersplatzes von Blut rot gefärbt. Ein Alptraum. Schlimmer als jener Tag des Jahres 1981, als der Pole beinahe einem Attentat zum Opfer gefallen war. Das habe ich verschuldet, dachte Casagrande. Das ist alles meine Schuld.
Er durchquerte die Kolonnaden und ging zum Annentor weiter. Unterwegs malte er sich aus, was alles folgen würde. Die unweigerliche Aufdeckung der Verschwörung. Die Enttarnung der Rolle der Crux Vera. Wie konnte er erklären, daß er in Wirklichkeit dem Papst das Leben gerettet hatte? Daß er die Kirche gerettet hatte, indem er Kardinal Brindisi hatte ermorden lassen? Das Blut auf dem Petersplatz war notwendig, sagte er sich. Es war reinigendes Blut. Aber das würde ihm niemand glauben. Er würde in Schande sterben, als entehrter Mann. Als Mörder.
Vor dem Portal der St.-Anna-Kirche blieb er stehen. Dort hielt ein Gardist Wache. Er war überstürzt alarmiert worden und trug Jeans und eine Lederjacke. Er wirkte überrascht, als er Casagrande langsam die Stufen heraufkommen sah.
»Ist dort jemand drinnen?« fragte Casagrande.
»Nein, General. Wir haben die Kirche geräumt, als die ersten Schüsse gefallen sind. Die Türen sind abgesperrt.«
»Schließen Sie mir bitte auf. Ich möchte beten.«
Das winzige Kirchenschiff lag im Halbdunkel. Der Gardist blieb in der Nähe des Portals stehen und beobachtete neugierig, wie Casagrande nach vorn ging und vor dem Hauptaltar auf die Knie sank. Er betete einen Augenblick lang inbrünstig, dann griff er in seine Manteltasche.
Der Gardist spurtete im Mittelgang nach vorn und brüllte laut: »Nein, General! Halt!« Aber Casagrande schien ihn nicht zu hören. Er nahm die Pistolenmündung in den Mund und drückte ab. Ein einzelner Schuß hallte durch die leere Kirche. Er hielt sich noch einige Sekunden lang kniend aufrecht – lange genug, daß der Gardist hoffen konnte, der General habe vielleicht danebengeschossen. Dann sackte er nach vorn und blieb auf den Altarstufen liegen. Carlo Casagrande, der Retter Italiens, war tot.
T EIL V
Eine Kirche in Venedig
36
R OM
Im zehnten Stock der Gemelli-Klinik gibt es mehrere Zimmer, von denen nur wenige wissen. Mit ihrer spartanisch kargen Einrichtung sind sie die Räume eines Priesters. In einem steht ein Krankenbett. In einem anderen gibt es Sofas und Sessel. Das dritte Zimmer ist eine Privatkapelle. Auf dem Korridor steht ein Schreibtisch für das Wachpersonal. Dort hält ständig jemand Wache, auch wenn die Zimmer leer sind.
In den Tagen nach den Morden im Vatikan war in der Suite ein namenloser Patient untergebracht. Seine Verletzungen waren schwer: Schädelbasisbruch, ein angebrochener Rückenwirbel, vier Rippenbrüche, großflächige Prellungen und Hautabschürfungen am ganzen Körper. Eine Notoperation minderte den lebensbedrohlichen Druck des anschwellenden Gehirns, aber der Patient blieb in tiefem Koma. Aufgrund seiner schlimmen Rückenverletzungen wurde er mit dem Gesicht zum Fenster auf den Bauch gelagert. Eine Sauerstoffmaske verdeckte das angeschwollene Gesicht. Seine durch Blutergüsse verfärbten Lider blieben fest geschlossen.
Vieles wies darauf hin, daß der Unbekannte ein wichtiger Mann sein mußte. Monsignore Luigi Donati, der Privatsekretär des Papstes, rief mehrmals täglich an, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Vor seiner Tür waren ständig zwei Leibwächter
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