Die Loge
Konsulatsbeamter hatte ihm einen Ordner mit Ermittlungsberichten der Münchner Kripo und Zeitungsausschnitten gegeben. Der Ordner lag jetzt in Ehud Landaus teurem Aktenkoffer.
»Der Konsulatsbeamte war sehr hilfsbereit«, stellte Gabriel fest. »Aber wenn's Ihnen recht ist, würde ich die Umstände von Benjamins Ermordung gern von Ihnen hören, Herr Kommissar.«
»Natürlich«, sagte der Deutsche.
Die folgenden zwanzig Minuten verbrachte er damit, Gabriel die äußeren Tatumstände minutiös zu schildern. Zeitpunkt des Todes, Todesursache, Kaliber der Tatwaffe, die sorgfältig dokumentierten Todesdrohungen gegen Benjamin, die an den Wänden seines Arbeitszimmers zurückgelassenen Graffiti. Er sprach in dem ruhigen, aber offenen Tonfall, den Polizeibeamte in aller Welt für die Angehörigen von Mordopfern zu reservieren scheinen. Gabriels Verhalten war ein Spiegelbild der freimütigen Art des Kommissars. Er spielte nicht den zutiefst Betroffenen. Er tat nicht so, als bereiteten ihm die grausigen Umstände des Todes seines Halbbruders besondere Schmerzen. Er war Israeli. In Tel Aviv waren gewaltsame Tode fast alltäglich. Die Trauerperiode war vorbei. Nun wurde es Zeit, Antworten zu verlangen und klar zu denken.
»Wozu der Schuß ins Knie, Herr Kommissar?«
Weiss schob die Unterlippe vor und legte seinen schmalen Kopf leicht schief. »Das wissen wir nicht genau. Vielleicht hat es einen Kampf gegeben. Oder vielleicht sollte er gefoltert werden.«
»Aber Sie haben mir erzählt, keiner der anderen Hausbewohner habe etwas gehört. Wäre er gefoltert worden, hätten seine Schreie doch in anderen Teilen des Gebäudes zu hören gewesen sein müssen.«
»Wie ich schon gesagt habe, sind wir uns unserer Sache nicht ganz sicher, Herr Landau.«
»Entspricht ein Schuß ins Knie dem Schema anderer Morde, die von Rechtsextremisten verübt wurden?«
»Das kann ich nicht behaupten.«
»Haben Sie irgendwelche Verdächtigen?«
»Im Zusammenhang mit dem Mord befragen wir eine größere Anzahl von Personen. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick leider nicht sagen.«
»Sind Sie der Möglichkeit nachgegangen, sein Tod könnte irgendwie mit seiner Lehrtätigkeit an der Universität zusammenhängen? Daß zum Beispiel ein unzufriedener Student ihn ermordet haben könnte?«
Der Kriminalbeamte rang sich ein Lächeln ab, aber seine Geduld wurde offensichtlich auf eine harte Probe gestellt. »Ihr Bruder war sehr beliebt. Seine Studenten haben ihn verehrt. Außerdem war er für dieses Semester von seinen Lehrverpflichtungen befreit.« Der Kommissar machte eine Pause und betrachtete Gabriel forschend. »Das wußten Sie doch, Herr Landau?«
Gabriel hielt es für besser, nicht zu lügen: »Nein, leider nicht. Wir hatten schon länger nicht mehr miteinander gesprochen. Aus welchem Grund war Benjamin von seinen Lehrverpflichtungen befreit?«
»Der Dekan seiner Fakultät hat uns mitgeteilt, er habe an einem neuen Buch gearbeitet.« Weiss trank seinen Kaffee aus. »Sehen wir uns jetzt die Wohnung an?«
»Ich habe nur noch eine Frage.«
»Und die wäre, Herr Landau?«
»Wie ist der Mörder ins Haus gekommen?«
»Das kann ich Ihnen sagen«, antwortete der Kriminalbeamte. »Obwohl Ihr Bruder häufig Morddrohungen erhalten hat, hat er in einem sehr unsicheren Gebäude gewohnt. Die dortigen Bewohner überlegen nicht lange, wen sie ins Haus lassen. Klingelt jemand und ruft ›Werbung!‹ in die Sprechanlage, wird der Türöffner gedrückt. Eine Studentin im Stockwerk über Professor Stern ist sich ziemlich sicher, daß sie den Mörder hereingelassen hat. Sie macht sich deswegen noch immer Vorwürfe. Sie hatte Ihren Bruder offenbar sehr gern.«
Sie liefen im Dauerregen in die Adalbertstraße zurück. Der Kommissar drückte einen Knopf der Klingelanlage. Gabriel merkte sich den Namen daneben: L. RATZINGER – HAUSMEISTERIN. Wider Erwarten meldete sich keine Stimme, statt dessen öffnete eine kleine, grimmig dreinblickende Frau, in deren braunen Augen ein gehetzter Ausdruck stand, die Haustür einen Spaltbreit. Sie erkannte Weiss und machte die Tür ganz auf.
»Grüß Gott, Frau Ratzinger«, sagte der Kripobeamte. »Dies ist Ehud Landau, Benjamin Sterns Bruder. Er ist gekommen, um dessen Angelegenheiten zu ordnen.«
Die Alte sah zu Gabriel hinüber und nickte. Dann wandte sie sich ab, als bereite sein Anblick ihr Unbehagen.
In der Eingangshalle empfing Gabriel ein stechender Geruch, der ihn an die Lösungsmittel erinnerte, die er zum Entfernen
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