Die Loge
Die dunklen Vorhänge waren schwer und dicht wie die eines Mannes, der nachts arbeitet und tagsüber schläft. Als Gabriel sie aufzog, hüllte ihn eine Staubwolke ein.
Die folgende halbe Stunde verbrachte er damit, Kleiderschrank, Kommode und Nachttisch genauestens zu durchsuchen. Für den Fall, daß Kommissar Weiss einen Blick auf seine Inventarliste werfen wollte, machte er sich genaue Notizen in seinem in Leder gebundenen Notizbuch. In Wirklichkeit entdeckte er nichts Ungewöhnliches.
Er ging in das zweite Schlafzimmer hinüber. Dort standen die Wände voller Bücherregale und Aktenschränke. Benjamin hatte den Raum offenbar als Archiv genutzt. Hier sah es aus, als sei eine Bombe detoniert. Der Fußboden war voller Bücher, und alle Aktenschränke waren aufgerissen. Gabriel fragte sich, wer an dieser Unordnung schuld war: die Münchner Polizei oder Benjamins Mörder.
Seine Suche dauerte fast eine Stunde lang. Er blätterte alle Akten und die Seiten eines jeden Buchs durch. Weiss erschien einmal in der Tür, um zu sehen, wie er vorankam; dann gähnte er und ging ins Wohnzimmer zurück. Gabriel machte sich auch hier umfangreiche Notizen, um sie notfalls vorweisen zu können, fand aber nichts, was auf eine Verbindung zwischen Benjamin und dem Dienst hinwies – und erst recht keinen Hinweis auf seinen Mörder.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Weiss sah sich auf Benjamins Fernseher die Abendnachrichten an. Er schaltete das Gerät aus, als Gabriel hereinkam. »Fertig?«
»Hatte mein Bruder hier einen Lagerraum?«
Der Kriminalbeamte nickte. »Ein Kellerabteil wie jeder Mieter dieses Hauses.«
Gabriel hielt die Hand auf. »Kann ich den Schlüssel haben?«
Es war Frau Ratzinger, die Gabriel in den Keller begleitete und ihn durch einen Korridor mit schmalen Türen auf beiden Seiten führte. Sie blieb vor einer stehen, die wie Benjamins Wohnungstür mit 2B bezeichnet war. Die Alte schloß auf und zog an der Schnur, die eine Deckenleuchte einschaltete. Eine Motte flatterte auf und streifte Gabriels Wange. Die Frau nickte ihm zu und zog sich wortlos zurück.
Gabriel begutachtete das Kellerabteil. Es war nur wenig größer als ein begehbarer Schrank, ungefähr zwei mal zweieinhalb Meter, und roch nach Leinsamenöl und Feuchtigkeit. Er sah einen verrosteten Fahrradrahmen ohne Vorderrad, uralte Skier und unbeschriftete Kartons, die sich bis unter die wasserfleckige Decke stapelten.
Er stellte das defekte Fahrrad und die Skier hinter sich und fing an, die Kartons mit Benjamins Sachen durchzusehen. In mehreren fand er gebundene Skripte und alte Notizbücher mit Spiralbindung – das Treibgut eines in Hörsälen und Bibliotheken verbrachten Akademikerlebens. Andere Kartons enthielten staubige alte Bücher, die Benjamin vermutlich nicht wichtig genug gewesen waren, um oben in seiner Wohnung aufbewahrt zu werden. Mehrere Kartons waren mit noch eingeschweißten Exemplaren von Benjamins letztem Buch Verschwörung am Wannsee, eine Neubewertung vollgepackt.
Der letzte Karton enthielt nur rein persönliche Dinge. Gabriel fühlte sich unbefugt, darin herumzuwühlen. Er fragte sich, was er empfinden würde, wenn die Rollen anders verteilt wären – wenn Schamron jemanden vom Dienst entsandt hätte, um seine Sachen durchwühlen zu lassen. Und was hätte er gefunden? Nur, was Gabriel von sich hätte offenbaren wollen: Lösungsmittel und Pigmente, die Pinsel und seine Palette, eine umfangreiche Sammlung von Künstlermonographien. Eine Beretta auf seinem Nachttisch.
Er atmete tief durch und machte weiter. In einer Zigarrenkiste fand er eine Sammlung von oxydierten Medaillen an bunten Bändern und erinnerte sich daran, daß Benjamin bei Schulsportfesten viele Laufwettbewerbe gewonnen hatte. Ein großer Umschlag enthielt Familienphotos. Wie Gabriel war Benjamin ein Einzelkind gewesen. Seine Eltern hatten die Schrecken von Riga überlebt, nur um dann auf der Straße nach Haifa bei einem Verkehrsunfall umzukommen. Unter dem Umschlag fand er einen Stapel Briefe. Das Papier war honigfarben und duftete noch immer nach Flieder. Gabriel las ein paar Zeilen, dann legte er den Stapel rasch beiseite. Vera … Benjamins einzige große Liebe. Wie viele Nächte hatte er in irgendeiner schäbigen sicheren Wohnung wach gelegen und sich Benjamins Gejammer darüber angehört, daß die betörende Vera ihn für alle anderen Frauen verdorben habe? Gabriel war sich ziemlich sicher, daß er sie mehr gehaßt hatte, als Benjamin je dazu in der Lage gewesen
Weitere Kostenlose Bücher