Die Loge
war.
Der letzte Gegenstand war eine Eckspannmappe aus Pappe. Gabriel öffnete sie und fand darin einen Stapel Zeitungsausschnitte. Er überflog die Überschriften: ELF ISRAELISCHE SPORTLER UND TRAINER IM OLYMPIADORF ALS GEISELN GENOMMEN … TERRORISTEN FORDERN FREILASSUNG PALÄSTINENSISCHER UND DEUTSCHER HÄFTLINGE … SCHWARZER SEPTEMBER …
Gabriel ließ die Gummis wieder zuschnappen.
Ein altes Schwarzweißphoto war herausgerutscht. Gabriel hob es vom Fußboden auf. Zwei Jungen, beide in Jeans, beide mit Rucksack. Auf den ersten Blick vielleicht zwei junge Deutsche, die einen Sommer lang durch Europa trampten. Die Aufnahme war in Antwerpen an einem Scheldekai gemacht worden. Links stand spitzbübisch lächelnd Benjamin, dem schwarze Locken in die Stirn fielen, und hatte seinem Gefährten einen Arm um die Schultern gelegt.
Benjamins Begleiter wirkte ernst und mürrisch, als habe er keine Lust, sich mit etwas so Trivialem wie einem Erinnerungsphoto abzugeben. Er trug eine Sonnenbrille, sein Haar war kurz geschnitten, und obwohl er kaum älter als zwanzig war, hatte er schon graue Schläfen. »Das Mal eines Jungen, der Männerarbeit geleistet hat«, hatte Schamron dazu gesagt. »Aschespuren am Fürsten des Feuers.«
Gabriel war von den Zeitungsausschnitten über das Olympia-Massaker nicht begeistert. Eine Mappe in dieser Größe konnte er unmöglich an Kommissar Weiss vorbeischmuggeln. Den Schnappschuß konnte er dagegen leicht verschwinden lassen. Er steckte das Photo in Herrn Landaus teure Geldbörse und schob sie zurück in seine Tasche. Dann zwängte er sich aus dem Kellerraum heraus und zog die Tür hinter sich zu.
Frau Ratzinger wartete auf dem Korridor. Gabriel fragte sich, wie lange sie dort schon stehen mochte, hatte aber nicht den Mut, sie danach zu fragen. Sie hielt einen kleinen Luftpolsterumschlag in der Hand. Er konnte sehen, daß er an Benjamin adressiert und bereits geöffnet war.
Die alte Frau hielt ihm den Umschlag hin. »Ich dachte, die würden Sie haben wollen«, sagte sie auf deutsch.
»Was ist da drin?«
»Benjamins Brille. Er hat sie in einem Hotel in Italien liegenlassen. Der Portier war so freundlich, sie ihm nachzuschicken. Leider ist sie erst nach seinem Tod angekommen.«
Gabriel nahm den Umschlag entgegen, öffnete die Klappe und zog die Brille heraus. Sie war die Brille eines Gelehrten: aus Kunststoff und unmodern, angekaut und verkratzt. Er sah nochmals in den Luftpolsterumschlag und entdeckte darin eine Ansichtskarte. Als er den Umschlag umdrehte, fiel die Karte in seine Handfläche. Das Photo zeigte ein ockergelbes Hotel an einem saphirgrünen oberitalienischen See. Gabriel drehte die Karte um und las, was auf der Rückseite stand:
Viel Glück mit Ihrem Buch, Professor Stern!
Giancomo
Kommissar Weiss bestand darauf, Gabriel in sein Hotel zu fahren. Da Herr Landau noch nie in München gewesen war, mußte Gabriel sich begeistert über die von Neonlampen erhellte klassizistische Pracht des Stadtzentrums äußern. Ihm fiel auch auf, daß Weiss die Fahrt geschickt um fünf Minuten verlängerte, indem er mehrere Abbiegemöglichkeiten ignorierte.
Schließlich erreichten sie die schmale, gepflasterte St.-Anna-Straße im Stadtbezirk Lehel. Weiss hielt vor dem Hotel »Opera«, drückte Gabriel seine Karte in die Hand und sprach ihm erneut sein Beileid zu Herrn Landaus Verlust aus. »Wenn ich sonst noch irgendwas für Sie tun kann, brauchen Sie es nur zu sagen.«
»Eine Bitte habe ich noch«, sagte Gabriel. »Ich würde gern mit dem Dekan von Benjamins Fakultät sprechen. Haben Sie seine Telefonnummern?«
»Ah, Professor Berger. Natürlich.«
Der Kriminalbeamte zog einen elektronischen Organizer aus der Tasche, fand die Nummern und las sie vor. Gabriel notierte sie sich demonstrativ auf der Rückseite von Weiss' Karte, obwohl das überflüssig war; hatte er einmal eine Nummer gehört, blieb sie unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben.
Gabriel bedankte sich bei Weiss und ging nach oben. Er gab eine Bestellung beim Zimmerservice auf und verzehrte ein leichtes Abendessen aus Gemüsesuppe und Omelette. Dann duschte er und nahm die Akte, die der Konsulatsbeamte ihm am Nachmittag gegeben hatte, mit ins Bett. Er las sie von vorn bis hinten sorgfältig durch, schloß sie dann wieder, starrte die Zimmerdecke an und horchte auf den Regen, der an die Fensterscheiben klopfte.
Wer hat dich umgebracht, Beni? Ein Neonazi? Nein, das bezweifelte Gabriel. Er hatte den Verdacht,
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