Die Loge
daß die Odinsrune und die Drei Siebener nur Tarnung waren. Aber weshalb war er dann ermordet worden? Gabriel hatte bereits eine Arbeitshypothese. Benjamin war von seinen Lehrverpflichtungen entbunden gewesen, um ein neues Buch schreiben zu können, aber in seiner Wohnung hatte Gabriel keinen Hinweis darauf gefunden, daß er an irgend etwas gearbeitet hatte. Keine Notizen. Keine Unterlagen. Kein Manuskript. Nur ein auf die Rückseite einer Ansichtskarte aus Italien gekritzelter Gruß: Viel Glück mit Ihrem Buch, Professor Stern! – Giancomo.
Er klappte seine Geldbörse auf und zog das Photo heraus, das er aus dem Kellerraum mitgenommen hatte. Gabriel war mit einem Gedächtnis geschlagen, das ihn nie etwas vergessen ließ. Ihm stand noch vor Augen, wie Benjamin seine Kamera einem hübschen belgischen Mädchen in die Hand gedrückt hatte, wie Benjamin ihn am Arm ans Geländer gezogen hatte. Er wußte sogar noch, was Benjamin gesagt hatte, als er Gabriel den Arm um die Schultern gelegt hatte.
»Du sollst lächeln, Arschloch.«
»Das ist nicht lustig, Beni.«
»Kannst du dir vorstellen, was der Alte sagen würde, wenn er sähe, daß wir hier für ein Photo posieren?«
»Dafür reißt er uns den Arsch auf.«
»Keine Angst, ich verbrenne es.«
Genau das tat Gabriel fünf Minuten später im Waschbecken des Hotelbadezimmers.
Kommissar Axel Weiss wohnte in Bogenhausen, einem Münchner Wohnviertel rechts der Isar, aber er fuhr nicht nach Hause. Nachdem er den Israeli vor seinem Hotel abgesetzt hatte, parkte er in einer schlecht beleuchteten Seitenstraße und beobachtete den Eingang des Hotels »Opera«. Eine halbe Stunde später wählte er auf seinem Handy eine Nummer in Rom.
»Hier ist der Chef«, meldete sich eine englische Stimme mit starkem italienischem Akzent.
»Ich fürchte, wir haben ein Problem.«
»Ja? Das müssen Sie mir genau erzählen.«
Der Kriminalbeamte schilderte sorgfältig die Ereignisse dieses Nachmittags und Abends. Er wußte, wie man sich ausdrücken mußte, wenn man abgehört werden konnte, und achtete darauf, keine Einzelheiten zu nennen. Außerdem kannte der Mann am anderen Ende sie bereits.
»Können Sie den Betreffenden überwachen lassen?«
»Ja, aber wenn er ein Profi ist …«
»Tun Sie's!« knurrte der Mann in Rom. »Und beschaffen Sie uns ein Photo.«
Dann brach die Verbindung ab.
5
V ATIKANSTADT
»Kardinal Brindisi. Ich freue mich, Euch zu sehen.«
»Euer Heiligkeit.«
Kardinalstaatssekretär Marco Brindisi beugte sich über den dargebotenen Fischerring. Seine Lippen berührten ihn nur flüchtig. Dann richtete er sich wieder auf und starrte dem Papst mit an Unverschämtheit grenzendem Selbstbewußtsein direkt ins Gesicht. Brindisi, eine hagere Gestalt mit verkniffenem Gesicht und pergamentartiger Haut, schien über dem Fußboden der päpstlichen Gemächer zu schweben. Seine Soutane stammte aus dem Maßatelier in der Nähe der Piazza della Minerva, das die Päpste einkleidete. Sein Brustkreuz aus massivem Gold zeugte von dem Reichtum und Einfluß seiner Angehörigen und Gönner. Weiße Lichtreflexe auf seinen kleinen, runden Brillengläsern tarnten ein Paar humorloser blaßblauer Augen.
Als Staatssekretär überwachte Brindisi das interne Funktionieren des Stadtstaats Vatikan ebenso wie seine diplomatischen Beziehungen zum Rest der Welt. Eigentlich war er der Ministerpräsident des Vatikans und damit der zweitmächtigste Mann der römisch-katholischen Kirche. Trotz seines enttäuschenden Abschneidens im Konklave konnte der doktrinäre Kardinal weiter auf eine sorgfältig gepflegte Anhängerschaft innerhalb der Kurie bauen, die ihm eine Hausmacht verlieh, wie sie selbst der Papst kaum besaß. Tatsächlich war sich Paul VII. durchaus nicht im klaren darüber, wer bei einer Machtprobe gesiegt hätte: er oder der schweigsame Kardinal.
Die beiden Männer kamen regelmäßig einmal die Woche zum Mittagessen zusammen. Das war der Teil der Woche, den der Papst am meisten fürchtete. Manche seiner Vorgänger hatten sich für Details von Kirchenangelegenheiten begeistern können und jeden Tag Aktenberge durchgearbeitet. Zu Zeiten von Pius XII. und Paul VI. hatte das Licht im päpstlichen Arbeitszimmer stets bis nach Mitternacht gebrannt. Lucchesi verwandte seine Zeit lieber auf Spirituelles und verabscheute die Beschäftigung mit dem Kurienalltag. Leider hatte er noch keinen Staatssekretär, dem er traute, deshalb versäumte er kein Mittagessen mit Kardinal Brindisi.
Sie saßen
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