Die Loge
Täuschungs- und Ausweichmanöver. Sprechen wir nicht nachdrücklich und ehrlich, verrichten wir mit eigenen Händen das Werk unserer Feinde. Dann vernichten wir uns selbst.«
»Gestattet mir, nachdrücklich und ehrlich zu sprechen, Euer Heiligkeit. Eure Naivität in dieser Angelegenheit ist schockierend. Nichts, was die Kirche sagen kann, wird die Kritiker, die uns verdammen, jemals zufriedenstellen. Es hieße nur Öl ins Feuer gießen. Ich darf und werde nicht zulassen, daß Ihr den Ruf von Päpsten und der Kirche durch diese Torheit mit Füßen tretet. Pius XII. hat die Heiligsprechung, keine weitere Kreuzigung verdient.«
Pietro Lucchesi mußte erst noch lernen, die äußeren Zeichen päpstlicher Macht zu genießen, aber der offenkundige Ungehorsam, der aus Brindisis Antwort sprach, weckte seinen Zorn. Er zwang sich dazu, völlig ruhig zu sprechen. Trotzdem schwang in seiner Stimme ein Unterton von Wut und Herablassung mit, den sein Gegenüber sehr wohl bemerkte: »Ich kann Euch versichern, Marco, daß alle, die sich wünschen, Pius möge heiliggesprochen werden, ihre Hoffnung auf den Ausgang des nächsten Konklaves werden setzen müssen.«
Der Kardinal ließ seinen langen, spinnenartigen Zeigefinger um den Rand seiner Espressotasse kreisen, während er sich auf einen weiteren Sturmangriff vorbereitete. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Der Pole hat sich bei zahlreichen Anlässen für die Sünden mancher Söhne und Töchter der Kirche entschuldigt. Auch andere Prälaten haben Entschuldigungen ausgesprochen. Manche, beispielsweise unsere Brüder in Frankreich, sind viel weiter gegangen, als ich befürwortet hätte. Aber die Juden und ihre Freunde in den Medien werden sich nicht zufriedengeben, bis wir eingestehen, daß wir unrecht gehandelt haben – daß Seine Heiligkeit Papst Pius XII., ein großer und heiliger Mann, gefehlt hat. Was sie nicht verstehen – was auch Ihr zu vergessen scheint, Euer Heiligkeit –, ist die Tatsache, daß die Kirche als Verkörperung Christi auf Erden nicht unrecht haben kann. Die Kirche ist die Wahrheit selbst. Würden wir eingestehen, daß die Kirche – oder der Papst – irren können …« Er ließ den Satz unvollendet, fügte aber hinzu: »Es wäre ein Fehler, die Initiative, an die Ihr denkt, voranzutreiben, Euer Heiligkeit. Ein schwerwiegender Irrtum.«
»In diesen heiligen Mauern, Marco, hat das Wort Irrtum ganz bestimmte Nebenbedeutungen. Es war sicher nicht Eure Absicht, mich auf diese Weise anzuklagen.«
»Ich habe nicht die Absicht, meine Worte zu analysieren, Euer Heiligkeit.«
»Und was ist, wenn die Dokumente aus den Geheimarchiven eine andere Geschichte erzählen?«
»Solche Dokumente dürfen niemals veröffentlicht werden.«
»Nur ich kann Schriftstücke aus unseren Geheimarchiven zur Veröffentlichung freigeben, und ich habe beschlossen, das zu tun.«
Der Kardinal betastete sein Brustkreuz. »Wann wollt Ihr diese … Initiative ankündigen?«
»Kommende Woche.«
»Wo?«
»Jenseits des Tibers«, sagte der Papst. »In der Großen Synagoge.«
»Ausgeschlossen! Die Kurie hat noch nicht ausreichend Zeit gehabt, dieser Sache die Gedankenarbeit und Vorbereitung zu widmen, die sie benötigt.«
»Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt. Ich kann nicht abwarten, bis die Mandarine der Kurie das Für und Wider dieser Angelegenheit sorgfältig abgewogen haben. So würden die Dinge auf die lange Bank geschoben und vergessen, fürchte ich. Ich habe schon mit dem Rabbiner gesprochen. Kommende Woche fahre ich ins Ghetto hinüber – mit oder ohne Unterstützung der Kurie, übrigens auch mit oder ohne die meines Staatssekretärs. Die Wahrheit, Euer Eminenz, wird uns frei machen.«
»Und Ihr, ein zum Papst aufgestiegener Straßenjunge aus Venetien, glaubt, als einziger im Besitz der Wahrheit zu sein.«
»Gott allein kennt die Wahrheit, Marco, aber Thomas von Aquin hat von einer wissentlichen Ignoranz – einer ignorantia affectata – geschrieben. Ein bewußter Verzicht auf Wissen, um vor Schaden sicher zu sein. Es wird Zeit, unsere Ignorantia affectata abzulegen. Unser Heiland hat gesagt, er sei das Licht der Welt, aber hier im Vatikan leben wir in Finsternis. Ich habe mir vorgenommen, Licht in dieses Dunkel zu bringen.«
»Mein Gedächtnis scheint mir Streiche zu spielen, Euer Heiligkeit, aber ich glaube mich zu erinnern, daß wir beim Konklave einen katholischen Papst gewählt haben.«
»Das habt Ihr getan, Euer Eminenz, aber Ihr habt auch einen
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