Die Loge
Gefühl nicht los, von einem grauen Lancia verfolgt zu werden. Also verließ er in Verona die autostrada und fuhr in die Innenstadt, um dort mit einer Serie in der Praxis schon oft bewährter Fahrmanöver etwaige Verfolger abzuschütteln. In Padua wiederholte er diese Tricks. Als er eine halbe Stunde später über den Damm von Mestre nach Venedig raste, war er sich ziemlich sicher, daß ihm niemand mehr folgte.
Den ganzen Nachmittag und bis in den Abend hinein arbeitete er an dem Altarbild. Gegen neunzehn Uhr verließ er die Kirche und schlenderte zu Francesco Tiepolos Büro in San Marco hinüber. Er traf ihn allein an dem Refektoriumstisch an, der ihm als Schreibtisch diente und an dem er gerade Papierkram aufarbeitete. Tiepolo, selbst ein hochqualifizierter Restaurator, hatte Pinsel und Palette längst beiseite gelegt, um sich ganz auf die Leitung seines florierenden Fachbetriebs für Restaurierungen zu konzentrieren. Als Gabriel den Raum betrat, lächelte ihm Tiepolo durch seinen üppigen schwarzen Bart zu. Auf den Gassen Venedigs wurde er von Touristen oft mit Luciano Pavarotti verwechselt.
Bei einem Glas Ripasso versuchte Gabriel dann, ihm schonend beizubringen, daß er Venedig erneut für ein paar Tage verlassen müsse, um persönliche Angelegenheiten zu regeln. Tiepolo vergrub sein breites Gesicht in den Händen und murmelte ein paar herzhafte italienische Flüche, bevor er frustriert aufsah.
»Mario, in sechs Wochen soll die altehrwürdige Kirche San Zaccaria wieder fürs Publikum geöffnet werden. Kann sie in sechs Wochen nicht wiedereröffnet werden, schleift mich der Kirchenvorstand in die Verliese des Dogenpalasts und schlitzt mir rituell den Bauch auf. Drücke ich mich klar genug aus, Mario? Wirst du mit dem Bellini nicht rechtzeitig fertig, ist mein guter Ruf dahin.«
»Meine Arbeit ist bald abgeschlossen, Francesco. Ich muß nur ein paar persönliche Angelegenheiten regeln.«
»Was für Angelegenheiten?«
»Ein Todesfall in der Familie.«
»Wirklich?«
»Quetsch mich nicht weiter aus, Francesco.«
»Tu, was du zu tun hast, Mario. Aber ich warne dich: Sobald ich glaube, daß der Bellini in Gefahr ist, nicht termingerecht fertig zu werden, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich abzulösen und Antonio mit der Fertigstellung des Projekts zu betrauen.«
»Antonio ist nicht qualifiziert genug, dieses Altarbild zu restaurieren, das weißt du genau.«
»Was bleibt mir sonst übrig? Es selbst zu restaurieren? Du läßt mir keine andere Wahl.«
Wie meistens verflog Tiepolos Ärger jedoch rasch wieder, und er schenkte sich mehr Ripasso nach. Gabriel sah zu der Wand hinter Tiepolo auf. Zwischen Photos von Kirchen und Profanbauten, die seine Firma restauriert hatte, hing eine merkwürdige Aufnahme: Sie zeigte Tiepolo auf einem Spaziergang durch die vatikanischen Gärten – mit Papst Paul VII. an seiner Seite!
»Du hattest eine Privataudienz beim Papst?«
»Nein, eigentlich keine Audienz. Die Sache war viel weniger förmlich.«
»Willst du mir das nicht erklären?«
Tiepolo senkte den Kopf und blätterte in seinem Papierkram. Man brauchte kein ausgebildeter Vernehmer zu sein, um zu erkennen, daß es ihm widerstrebte, Gabriels Frage zu beantworten. Schließlich sagte er: »Ich rede nicht gern darüber, aber Tatsache ist, daß der Heilige Vater und ich recht gute Freunde sind.«
»Wirklich?«
»Der Heilige Vater und ich haben hier in Venedig sehr eng zusammengearbeitet, als er noch Patriarch war. Er ist tatsächlich kein schlechter Kunsthistoriker. Oh, wir sind uns oft schrecklich in die Wolle geraten! Dafür kommen wir jetzt um so besser miteinander aus. Ich bin mindestens einmal pro Monat bei ihm in Rom zum Abendessen eingeladen. Er besteht darauf, selbst zu kochen. Seine Spezialität sind Spaghettini mit Thunfisch, aber er würzt alles mit so viel rotem Pfeffer, daß man den ganzen Abend lang in Schweiß gebadet ist. Dieser Mann ist ein Krieger! Ein kulinarischer Sadist!«
Gabriel lächelte und stand auf. Tiepolo fragte: »Du läßt mich nicht im Stich, Mario, hab' ich recht?«
»Einen Freund des Papstes? Natürlich nicht. Ciao, Francesco. Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder.«
Über dem alten Ghetto hing eine Aura der Verlassenheit, die fast mit Händen greifbar war: keine auf dem Campo spielenden Kinder, keine alten Männer, die im Café saßen, kein Laut aus den hohen Apartmenthäusern. Hinter einigen wenigen Fenstern sah Gabriel Licht brennen, und für einen flüchtigen Augenblick
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