Die Loge
Hause, Chiara. Leiste deiner Mutter Gesellschaft. Wir brauchen nicht lange. Kommen Sie, Signor Delvecchio. In meinem Büro haben wir es gemütlicher, glaube ich.«
Die junge Frau zog ihren Mantel an, dann nickte sie Gabriel zu. »Kunstrestaurierung interessiert mich sehr. Und ich würde den Bellini gern mal aus der Nähe betrachten. Wäre es Ihnen recht, wenn ich bei Gelegenheit vorbeikomme und Ihnen bei der Arbeit zusehe?«
»Da haben Sie's!« sagte der Rabbi. »So geradeheraus, so plump. Keine Manieren mehr.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen das Altarbild zu zeigen. Ich rufe Sie an und sage Ihnen, wann's am besten paßt.«
»Hier bin ich immer zu erreichen. Ciao.«
Rabbi Zolli führte Gabriel in sein Büro voller Bücherregale mit durchgebogenen Regalbrettern. Seine Sammlung von Judaika war eindrucksvoll, und die erstaunliche Sprachenvielfalt auf den Buchrücken ließ erkennen, daß er wie Gabriel polyglott war. Sie nahmen in nicht zusammengehörigen Sesseln Platz.
»Sie haben mir mitgeteilt, Sie seien an einem Gespräch über die Juden interessiert, die während des Zweiten Weltkriegs Zuflucht im Herz-Jesu-Kloster in Brenzone gefunden haben«, nahm Rabbi Zolli das Gespräch wieder auf.
»Ja, das stimmt.«
»Ich finde es interessant, daß Sie Ihre Frage auf diese Weise gestellt haben.«
»Weshalb?«
»Weil ich mein Leben dem Studium und der Bewahrung der Geschichte der Juden in Oberitalien gewidmet und niemals irgendeinen Hinweis darauf gefunden habe, daß Juden in diesem speziellen Kloster Zuflucht gefunden hätten. Tatsächlich läßt das Beweismaterial darauf schließen, daß eher das Gegenteil passiert ist – daß Juden, die dort Zuflucht suchten, abgewiesen wurden.«
»Wissen Sie das ganz sicher?«
»So sicher, wie man dies nach dem heutigen Erkenntnisstand wissen kann.«
»Die Äbtissin des Klosters hat mir erzählt, im Krieg hätten dort etwa ein Dutzend Juden Zuflucht gefunden. Sie hat mir sogar die Kellerräume gezeigt, in denen sie versteckt gelebt haben.«
»Und wie heißt diese gute Frau?«
»Mater Vincenza.«
»Ich fürchte, daß sich Mater Vincenza bedauerlicherweise getäuscht hat. Oder noch schlimmer, daß sie absichtlich versucht hat, Sie zu täuschen, obwohl es mir widerstreben würde, einen derartigen Vorwurf gegen eine Ordensfrau zu erheben.«
Gabriel dachte an den Anruf, den er spätnachts in seinem Hotelzimmer in Brenzone erhalten hatte: Mater Vincenza belügt Sie, genau wie sie Ihren Freund belogen hat.
Der Rabbi beugte sich nach vorn und legte Gabriel eine Hand auf den Unterarm. »Beantworten Sie mir eine Frage, Signor Delvecchio. Weshalb interessieren Sie sich für diese Sache? Aus wissenschaftlichen Gründen?«
»Nein, aus persönlichen.«
»Darf ich Ihnen dann eine persönliche Frage stellen? Sind Sie Jude?«
Gabriel zögerte, dann antwortete er wahrheitsgemäß.
»Wieviel wissen Sie darüber, was hierzulande während des Krieges passiert ist?« fragte der Rabbi.
»Ich muß leider gestehen, daß meine Kenntnisse unzureichend sind, Rabbi Zolli.«
»Glauben Sie mir, das bin ich gewöhnt.« Er lächelte herzlich. »Kommen Sie, hier gibt es etwas, das Sie sehen sollten.«
Sie überquerten den dunklen Platz und blieben vor einem Haus stehen, das auf den ersten Blick ein gewöhnliches Wohngebäude zu sein schien. Durch ein Fenster, dessen Jalousie nicht heruntergelassen war, konnte Gabriel eine Frau sehen, die in einer kleinen Betriebsküche eine Abendmahlzeit zubereitete. Im Zimmer nebenan hockten drei alte Frauen vor einem flimmernden Fernseher. Dann fiel ihm das Schild über der Tür auf: CASA ISRAELITICA DE RIPOSO. Dieses Gebäude war ein Alten- und Pflegeheim für Juden.
»Lesen Sie, was auf dieser Gedenktafel steht«, sagte der Rabbi und zündete ein Streichholz an. Sie erinnerte an die Juden Venedigs, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen verhaftet und deportiert worden waren. Der Rabbi löschte das Streichholz mit einer raschen Handbewegung und beobachtete wieder die alten Jüdinnen.
»Im September 1943, nicht lange nach dem Zusammenbruch von Mussolinis Regime, hat die deutsche Wehrmacht ganz Italien bis auf den äußersten Süden des italienischen Stiefels besetzt. Innerhalb weniger Tage wurde der Vorsteher der jüdischen Gemeinde hier in Venedig von der SS unter Strafandrohung aufgefordert, eine Liste aller noch in Venedig lebenden Juden einzureichen.«
»Was hat er gemacht?«
»Er hat lieber Selbstmord verübt, als dieser Aufforderung
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