Die Loge
nachzukommen. Dadurch machte er der Gemeinde klar, daß ihre Zeit fast abgelaufen war. Hunderte von Juden sind aus der Stadt geflüchtet. Die meisten verbargen sich in Konventen in Oberitalien oder bei gewöhnlichen Italienern. Einige wenige versuchten, die Grenze zur Schweiz zu überschreiten, wurden aber zurückgewiesen.«
»Aber in Brenzone sind keine Juden untergetaucht?«
»Ich besitze keinerlei Hinweise darauf, daß irgendwelche Juden aus Venedig – oder auch von sonstwoher – im dortigen Herz-Jesu-Kloster aufgenommen worden sind. Unser Archiv enthält im Gegenteil die schriftliche Aussage einer Familie aus dieser Gemeinde, die in Brenzone Zuflucht gesucht hat und abgewiesen wurde.«
»Wer ist in Venedig zurückgeblieben?«
»Die Alten. Die Kranken. Die Armen, die kein Geld für Reisen oder Bestechungen hatten. Am Abend des fünften Dezembers drangen die italienische Polizei und faschistische Banden im Auftrag der Deutschen ins Ghetto ein. Hundertdreiundsechzig Juden wurden verhaftet. Hier, in der Casa Israelitica de Riposo wurden die Alten aus den Betten geholt und auf Lastwagen verladen. Sie kamen zunächst ins Internierungslager Fossoli, bevor sie im Februar nach Auschwitz transportiert wurden. Es gab keine Überlebenden.«
Der Rabbi faßte Gabriel am Ellbogen und zog ihn mit sich. Sie machten einen langsamen Rundgang um den Platz. »Die römischen Juden wurden schon zwei Monate früher zusammengetrieben. Am sechzehnten Oktober um halb sechs Uhr morgens stürmten bei strömendem Regen über dreihundert Deutsche – SS-Feldpolizei mit einem Totenkopfverband der Waffen-SS – das Ghetto. Sie durchkämmten ein Haus nach dem anderen, zerrten Juden aus ihren Betten und trieben sie auf Mannschaftswagen. Sie wurden in ein Übergangslager in der Kaserne des Collegio Militare gebracht – keinen Kilometer vom Vatikan entfernt. Trotz der schrecklichen Arbeit, die sie an diesem Morgen verrichtet hatten, wollten einige SS-Männer die große Kuppel des Petersdoms sehen, daher änderte die Kolonne ihre Fahrtroute entsprechend. Auf ihrer Fahrt am Petersplatz vorbei flehten die verängstigten Juden den Papst an, sie zu retten. Alles deutet darauf hin, daß er sehr wohl darüber informiert war, was an diesem Morgen im Ghetto geschah. Es lag schließlich praktisch vor seinem Fenster. Aber er hat keinen Finger gerührt, um zu intervenieren.«
»Wie viele?«
»Über tausend in dieser einen Nacht. Zwei Tage nach der Razzia wurden die Juden auf dem Bahnhof Tiburtina in Güterwaggons verladen, um nach Osten abtransportiert zu werden. Fünf Tage später starben tausendsechzig Menschen aus diesem Transport in Auschwitz und Birkenau.«
»Aber viele haben überlebt, nicht wahr?«
»Tatsächlich ist es bemerkenswert, daß vier Fünftel der italienischen Juden den Krieg überlebt haben. Als die Deutschen ganz Italien besetzten, suchten und fanden Tausende von Juden sofort Zuflucht in katholischen Klöstern, aber auch in katholischen Krankenhäusern und Schulen. Weitere Tausende wurden von der einfachen Bevölkerung versteckt. Adolf Eichmann sagte später in seinem Verfahren aus, jeder italienische Jude, der den Krieg überlebt habe, verdanke sein Leben einem Italiener.«
»Wegen einer Anweisung aus dem Vatikan? Hat Mater Vincenza die Wahrheit gesagt, als sie von einer päpstlichen Weisung gesprochen hat?«
»Die Kirche möchte, daß wir das glauben, aber leider gibt es keinen Beweis dafür, daß der Vatikan kirchliche Einrichtungen angewiesen hat, auf der Flucht befindlichen Juden Hilfe zu leisten. Es gibt im Gegenteil Hinweise darauf, daß der Vatikan keinen derartigen Befehl herausgegeben hat.«
»Was für Hinweise?«
»Zahlreiche Fälle von Juden, die Zuflucht in kirchlichen Einrichtungen suchten und abgewiesen wurden. Anderen wurde erklärt, wenn sie bleiben wollten, müßten sie zum katholischen Glauben übertreten. Hätte der Papst Anweisung erteilt, den Juden die Türen zu öffnen, hätte kein einfacher Mönch, keine einfache Nonne es gewagt, sich dem zu widersetzen. Die italienischen Katholiken, die Juden gerettet haben, haben es aus Güte und Mitleid getan – nicht auf Befehl ihres Oberhirten. Hätten sie auf eine päpstliche Weisung gewartet, wären in Auschwitz und Birkenau weit mehr italienische Juden umgekommen, fürchte ich. Eine derartige Weisung hat es nie gegeben. Tatsächlich hat sich Pius XII. trotz wiederholter Appelle der Alliierten und jüdischer Führer in aller Welt nie dazu durchringen können,
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