Die Logik des Verruecktseins
Krankheitsprozess eine ganz bestimmte Symptomatik auslösen soll. Wie kann dann ein Mischbild entstehen? Erklärlich ist dieses Phänomen nur, wenn wir das kraepelinsche Krankheitskonzept verlassen und aufhören, nach spezifischen Krankheitsursachen, die dem »gesunden« Erleben gegenüberstehen und sich von diesem gänzlich unterscheiden, zu suchen.
Die Trennung bestimmter Krankheitsgruppen voneinander ist, wie die klinische Erfahrung täglich zeigt, eine künstliche. Psychopathologische Phänomene zu trennen und in Krankheitsgruppen zusammenzuziehen ist zwar notwendig, um überhaupt einen ersten Verständnisüberblick über das psychopathologische Feld zu erlangen, verrät aber mehr über die Art und Weise des Menschen, in Strukturen zu denken, als über die psychopathologische Realität. Es gibt Krankheitsgruppen, die Themengeschwister sind und sich vereinend mit ihrer Thematik in einem Patienten die Hand reichen. Letztlich sieht der Kliniker viel mehr dieser »Mischzustände« als lehrbuchhafte, »reine« Krankheiten.
Mit unserem Seelenlabyrinth ist es allerdings auf den ersten Blick auch nicht viel besser bestellt. Auch hier haben wir Räume, die voneinander getrennt sind und in denen wir beginnend unterschiedliche Leitsymptome unterschiedlicher Krankheiten hineinsortiert haben. Wenn die Räume separiert sind, wie erklären wir dann Mischzustände? Wir erklären die Räume als pseudosepariert. Sie sind miteinander verbunden, denn einer geht übergangslos in die anderen, jeweilig über und unter ihm liegenden Räume über. Wie kann das sein, wir sehen doch Trennwände? Die vermeintlichen Trennwände entstehen nur durch unsere artifizielle Betrachtungsweise des Seelenlabyrinths. Nur unser sezierend, diagnostisch ausgerichteter Blick schaut auf eine Weise in das Seelenlabyrinth, dass beim interessierten Betrachter der Eindruck entsteht, als existierten Trennwände. Sie erinnern sich? Weiter oben hatten wir zum besseren Verständnis das Seelenlabyrinth aufgeklappt, um seine Innenstruktur besser erkennen zu können. Klappen wir es nun wieder zu, sind wie von Zauberhand alle Räume verbunden, weil nur noch ein Raum existiert. Dieser windet sich wendeltreppenartig, nach oben zunehmend raumgreifend, durch das Seelenlabyrinth. Alle vormals separierten Räume sind verschwunden, es gibt keine Übergänge, nur einen Raum und das sich nach oben ausdehnende Binnenvolumen. Aber wie ist das zu denken?
Das Seelenlabyrinth gleicht einem sich über mehrere Ebenen hinstreckenden Schneckenhaus. In diesem existiert ebenfalls nur ein Raum, der sich spiralförmig nach oben windet und immer breiter wird. Schneidet man ein Schneckenhaus in der Mitte längs durch, wie wir es mit unseren Strukturverständnisfragen und unserem diagnostischen Blick beim Seelenlabyrinth getan haben, sieht man scheinbar separierte Räume, da durch das Aufklappen des Schneckenhauses in zwei Hälften die »Raumübergänge« weggenommen wurden . In der Mitte eines Raumseparees ist das korrespondierende Binnenvolumen erkennbar. 78 Der Versuch zu verstehen hat das Schneckenhaus und das Seelenlabyrinth seines wichtigsten Strukturmerkmals beraubt und uns beinahe auf die falsche, kraepelinsche Fährte gesetzt.
Wenn das Seelenlabyrinth eine geschlossene, voll funktionstüchtige Einheit ist, dann ist der Seelenlabyrinthträger gesund und wir haben aufgrund der »Lautlosigkeit« bei voller Funktion so gut wie keine Möglichkeit zu erkennen, wie das Seelenlabyrinth eigentlich konstruiert ist. Psychopathologische Auffälligkeiten, und vor allem die als Krankheitseinheiten bezeichneten Funktionsstörungen des Seelenlabyrinths, gleichen einem Teilaufklappen des »Schneckengehäuses« und wir erhalten einen Teileinblick in die Seelenlabyrinthstruktur.
Bild 1 Eine Illustration des Zoologen Ernst Haeckel aus seinem von Charles Darwin inspirierten Werk Kunstformen der Natur verdeutlicht den Aufbau des Seelenlabyrinths. Die Tafel Nr. 53 »Prosobranchia - Vorderkiemen-Schnecken« offenbart in der Abbildung Mitte rechts, wie sich der spiralförmig gewundene Innenraum eines Schneckenhauses durch ein Aufschneiden in scheinbar getrennte Räume verwandelt.
Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen. Die Krankheitsseparationsräume, die wir doch ganz offensichtlich sehen, sind gar nicht existent. Sie sind ein Verständnisartefakt. Sie sind nicht Ausdruck eines »Krankheitsbefalls« des Seelenlabyrinths, der nur entfernt werden muss, und alles ist wieder funktionstüchtig, wie
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