Die Logik des Verruecktseins
Besuch, hinter seinem Rücken, im Nachbarzimmer, im Keller, immer wieder und überall, wenn er sie nur
einige Minuten aus den Augen lasse. Die bei dem Aufnahmegespräch auf eigenen Wunsch anwesende Frau schüttelte nur resigniert den Kopf. Sie war bereits 82 Jahre alt.
Psychopathologie als Fährte zur »Normalpsychologie«
Die genannten klinischen Fallbeispiele und der Ausflug in die evolutionär erwachsenen Randbedingungen unserer Partnerwahlproblematiken bestätigen den bereits angedeuteten Funktionsmechanismus des Seelenlabyrinths. Wiederum geht es um evolutionär entstandene Seinsprojektionen, die ein Navigieren in der Komplexwelt um uns herum überhaupt erst ermöglichen. Wir sind kein leeres, unbeschriebenes Blatt, das auf die Welt kommt und sich lernend erst zurechtfinden muss. Natürlich spielen Lernprozesse eine erhebliche Rolle, das Erlernte wird aber in evolutionär präformierte, projektionsfähige Interpretationsstrukturen eingebunden und verschmilzt mit diesen zu einem jedem Menschen eigenen Seinskonglomerat, das uns unterscheidet und individualisiert. Aber nur weil dies so ist, ähneln sich psychiatrische Patienten in ihren Krankheitsbildern überhaupt. Die jeweiligen Inhalte eines Liebeswahns sind so unterschiedlich, wie es Patientinnen mit einer Liebeswahnerkrankung gibt. Und dennoch gleichen sich die Krankheitsbilder in ihrer Struktur, weil die überindividuelle Thematik dieselbe ist. Männliche Patienten mit Eifersuchtswahn haben unterschiedliche »Zielobjekte« ihrer Erkrankung, ähneln sich aber in ihrer überindividuellen Thematik noch deutlicher untereinander . Beide Krankheitsbilder distanzieren den Menschen von sich selbst und von den anderen.
Gleichzeitig können sich alle Menschen verlieben und alle Menschen eifersüchtig werden. Ist oder wird man eines von beiden, entfernt man sich ebenfalls ein wenig von sich selbst und von dem anderen - sowohl im Falle der Verliebtheit wie auch im Falle der Eifersucht. Dies geschieht, da jeweilig die projektiven Anteile der evolvierten Interpretationsstrukturen zulasten der differenzierteren Realwahrnehmung und Realinterpretation zunehmen. Dem anderen wird etwas unterstellt, was er als Eigenschaft so vielleicht gar nicht besitzt.
Diese Selbst- oder Du-Verfremdung ist aber dringlich erforderlich und gesund, um Beziehungen überhaupt herstellen, festigen und ausbauen zu können. Man muss zu Beginn einer Beziehung, also in der Phase des Verliebtseins, den Partner mit Hilfe seiner evolvierten Partneridee, die wie eine Optimalschablone arbeitet und dem anderen ein Stück weit übergestülpt wird, verschönern und »veredeln«. Ansonsten wäre kein emotionaler Mehrwert denkbar, der nötig ist, um sich aufeinander zu beziehen und zueinander zu finden.
Ohne die Unterstellung einer uns alle verbindenden seelischen Grundstruktur, also ohne Kenntnis unseres evolutionär erwachsenen Seelenlabyrinths, in welchem »Gesunde« wie auch psychisch Kranke leben und navigieren, macht dies alles keinerlei Sinn. Ohne dieses Verständnis bleibt Psychiatern dann nichts anderes übrig, als Krankheitssymptome und letztlich unklar begründete Krankheitsbilder aufzulisten und durchzudefinieren. Dann benötigen sie Symptomlisten und Zeitkriterien und mühevoll international erarbeitete, scheinobjektive Diagnosenummern. Diese sind aber nichts anderes als imposante Scheinriesen, die immer kleiner werden, je mehr man sich ihnen mit der bereits erwähnten medizinischen Zentralfrage nähert: In welchem Verhältnis steht Psychopathologie und Normalpsychologie? Eine psychiatrische Theorie, die hierauf keine Antwort weiß, bleibt blind und tastet sich hilf- und orientierungslos durch das Seelenlabyrinth, ohne den Strukturaufbau anhand der Psychopathologie lesen zu lernen.
Wollen wir mehr über uns erfahren, müssen wir der psychopathologischen Fährte weiter folgen, da sie uns Hinweise auf allgemein verbindliche menschliche Angst- und Interessenthemen gibt, die evolutionär begründet und beim »Gesunden« von Bedeutung sind.
Im folgenden Kapitel beschäftigen wir uns deshalb mit der Funktionsstruktur der Angst und ihrem Stellenwert bei verletzlichen biologischen Wesen, wie wir selbst eines sind.
9. Der Angst-Experte
Je komplexer die Welt, desto mehr Gründe zum Sorgenmachen
Allen psychiatrischen Störungen ist das Phänomen »Angst« immanent. Diese kann sich in vielen Schattierungen und Arten präsentieren, von der gerade noch erträglichen Besorgtheit bis zur alles
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