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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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wissen wollen, wer an der Tür geklingelt hat.
    Damit aber nicht genug, erklärt Ihnen der Fachmann. Blitzschnelle und sehr raffinierte Einbrecher nähern sich langsam dem Objekt ihres Interesses, schlagen eine Scheibe ein, dringen in das Haus und verlassen dieses wieder mit ihrem Diebesgut und sind schon meilenweit entfernt, wenn der Alarm anschlägt und die Polizei heranrückt. Also, so rät Ihnen der Experte, sollten Sie Bewegungsmelder rund um das Haus aufstellen und diese ebenfalls mit der Alarmzentrale koppeln. Dadurch werden Sie rechtzeitig gewarnt, falls jemand mit zwielichtigen Absichten sich dem Haus, z.B. über den Garten, auch nur nähert.
    Die Alarmanlage und die dazugehörige Zentrale sind jetzt schon relativ kompliziert aufgebaut. Sie haben aber die Dreifach-Einbruchsicherung gekauft und deshalb rät der Experte zu einer dritten Sicherungshürde. Einbrecher könnten unbemerkt den ersten Sicherungswall überwinden, die Bewegungsmelder und auch den zweiten, die Fenster- und Türensicherungen, und plötzlich im Haus sein. Deshalb werden zum Abschluss auch noch Bewegungsmelder im Haus
selbst installiert. Jeder Raum wird über optische Sensoren in eine in der Alarmanlagentechnik sogenannte »Bewegungsfalle« umgewandelt. Diese optischen Fallen lösen Alarm aus, sobald sich irgendetwas im überwachten Zimmer bewegt. Nach Abschluss der Installationen erläutert Ihnen der Fachmann noch, wie die Alarmanlage scharf gestellt werden und wie sie ausgestellt werden kann, damit Sie nicht selbst ständig Alarm auslösen.
    »Das Wichtigste aber«, so erläutert Ihnen der Fachmann noch, »ist dieser Sensibilitätsregler. Er verfügt über eine dreistufige Empfindlichkeitsreglung. Stufe 3 ist die höchste Empfindlichkeitsstufe, sie entspricht der Grundeinstellung bei Auslieferung. Entscheiden Sie selbst, auf welche Stufe Sie Ihre Alarmanlage scharf stellen wollen.« Als der Experte in seinem Lieferwagen davonfährt, fällt Ihr Blick auf seinen Werbeslogan. »Der Alarmexperte. Reparatur. Wartung. Inspektion. Neuinstallation. Tel.: 1221809.« Mit einem Mal wissen Sie jetzt plötzlich, woher Sie ihn kennen. 35
     
    Die raffiniertesten Alarmanlagen, die es gibt, hat die Natur über den Prozess der Evolution konstruiert. Vor allem seit der »Erfindung« zentraler Nervensysteme, als deren primitivste Vertreter die Nervennetze bei Polypen der Gattung Hydra gelten, erweist sich eine Eigenschaft komplexeren biologischen Lebens zunehmend als die bestimmende: die Irritabilität. Komplexe Organismen sind im Inneren durch sensorische Reizaufnahme erreichbar durch das, was im Außen geschieht. Sie nehmen Stellung zu den Geschehnissen um sie herum und positionieren sich in ihrer Funktionalität zu den registrierten Ereignissen. Solches Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass es zur Aufgabe eines innerlichen Gleichgewichtes kommt, wenn das Draußen anklopft. Je besser ein Nervensystem das Anklopfen zu bewerten weiß, desto mehr versteht es von der Welt, die es umgibt. Zunehmendes Weltverständnis geht deshalb in der Evolution immer einher mit dem Aufbau innerer Welten, die das Weltverständnis simulierend ermöglichen.
    Dabei müssen die »Klopfzeichen« gar nicht immer besser gehört, sie müssen nur besser verstanden werden. In der Primatenevolution etwa nahm auf dem Weg zur Menschwerdung der Input in das Gehirn,
vermittelt durch die Sinne, immer weiter ab. Wir riechen schlechter als unsere Vorfahren, wir schmecken schlechter, wir sehen schlechter, wir hören schlechter - wohlgemerkt, bezogen auf die Inputleistung. Allerdings fangen wir mit dem spärlich gewordenen Informationsflüsschen viel mehr an. Wir berechnen, vergleichen, abstrahieren, symbolisieren und projizieren dann die Umgebungswelt, die es so nicht gibt, deren Simulation in uns aber ausreichend ist, um in ihr zu leben und uns in ihr bis heute als Art in einer nicht abgerissenen Kette reproduziert zu haben.
    Die innere Komplexität der Nervenzellsysteme ermöglichte also eine Komplexitätszunahme im Weltverständnis. Dies hat zur Folge, dass mit dem wachsenden Weltverständnis evolutionär auch immer mehr Selbstverständnis anwächst. Wachsendes Verstehen, der inneren wie der äußeren Welt, hat aber einen großen Nachteil und einen hohen Preis. Je mehr verstanden wird, desto mehr Gründe gibt es zur Irritabilität oder eben zum Angsthaben. Die Angst und vor allem ihre milde Form, die Sorge, ist vielleicht die einzige Ware des Lebens, die unter den Menschen gerecht verteilt

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