Die Logik des Verruecktseins
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Anlässe zur Angst sind wahrscheinlich unendlich. Die Orte oder die Positionen aber, von denen die Angst auslösende Gefahr ausgeht, sind nicht unendlich, sondern auf wenige Gefahrenorte zu reduzieren. Genau wie in unserem oberen Beispiel der Alarmsicherung Ihres Hauses, in welchem der Experte drei Sicherheitshorizonte definiert und gesichert hat, existieren für einen in der Welt befindlichen Organismus drei Horizonte, die seine Sicherheit gefährden: erstens der Gefahrenhorizont um uns herum, zweitens der Gefahrenhorizont in uns, und drittens der Gefahrenhorizont an der Schnittstelle des ersten und des zweiten.
Je komplizierter das Nervensystem einer Art konstruiert ist, desto mehr Themenfelder bereichern die Gefahrenhorizonte; umso mehr gibt es zu bemerken oder nicht zu bemerken, zu verdrängen oder nicht zu verdrängen, zu leugnen oder nicht zu leugnen, zu begehren oder nicht zu begehren, zu meiden oder nicht zu meiden, zu »beängstigen« oder nicht zu »beängstigen«.
Der erste Gefahrenhorizont: Innenweltalarmierung
Der erste Gefahrenhorizont, der nach innen gerichtete, ist notwendig, weil der Organismus parallel zum Weltverständnis selbst immer komplizierter, aber damit auch fehleranfälliger, fragiler und »sorgfaltsbedürftiger« werden musste. Das zentralnervöse Außenweltverständnis des Organismus wurde durch evolutionäre Prozesse irgendwann so differenziert, dass der Organismus auf sich selbst blicken kann und sich selbst in »Augenschein« nimmt, so, als wäre er eine Sache im Außen. Irgendwann ist dieses Sich-selbst-Bemerken nicht mehr komplizierter als das Weltbemerken. Die Evolution konnte und musste deshalb »Bewegungsfallen« im Organismus selbst installieren, die darauf hinweisen, dass im Organismus eine Fehlfunktion vorliegt, möglicherweise eine Krankheit, die beachtet und behandelt werden muss. Dass Ärzte häufig auf Patienten treffen, bei denen in diesem Gefahrenhorizont Fehlalarm ausgelöst wurde, die Patienten aber durch unauffällige medizinische Befunde nicht mehr zu beruhigen sind, hatten wir an anderer Stelle bereits kennengelernt.
Darwin selbst hat auf seiner fünfjährigen Weltumseglung auf der »Beagle« von 1831 bis 1836, auf der er sein zoologisches Wissen erwarb, das ihm die Entwicklung der Evolutionstheorie ermöglichte, ausgiebig Innenweltalarmierungen kennenlernen müssen. Gleich zu Beginn der Seereise wurde er schwer seekrank und war dadurch geplagt von Übelkeit und Erbrechen. Die Reise auf einem Schiff, besonders bei schwerem Seegang, gibt dem Gehirn aufgrund der schwankenden Situation an Bord bei starrem Horizont widersprüchliche Informationen, da unser gewohnter Lebensraum zur Zeit der relevanten evolutionären Gehirnentwicklung solche Raumbewegungen nicht kannte. Das Gehirn verarbeitet diese fehlende Übereinstimmung mit der evolutionär gebahnten Erwartung und der Lebenserfahrung mit einer heftigen Alarmreaktion: »Etwas passt nicht zusammen! Das Gehirn versteht die Welt nicht! Die Sinneseindrücke sind widersprüchlich! Unter Umständen liegt eine Vergiftung mit einem nervenwirksamen Toxin vor. Sofort den Magen, in dem sich das Toxin vielleicht befindet, entleeren!« Daher die Symptome Übelkeit, Erbrechen und
Nahrungsaversion bei der Seekrankheit. Tragischerweise gewöhnte sich Darwin während der gesamten Reise nicht an das Leben an Bord und war die ganzen fünf Jahre immer wieder schwer seekrank.
Von der Seekrankheit hatte Darwin nichts, unsere evolutionären Vorfahren aber, deren zunehmendes Weltverständnis auch zu einer komplexeren Nahrungsausbeutung der Umwelt führte, waren durchaus gefährdet, Lebensmittel zu sich zu nehmen, die giftig oder verdorben waren. Ein bedeutsamer evolutionärer Schritt »nach vorn« wurde getan, als sich aufrecht gehende Australopitheciden entwickelten, die eine biologische enge Ernährungsnische verließen und Gemischtköstler wurden. Eine gemischt vegetarische und carnevore Ernährungsweise bedarf eines sehr differenzierten Weltverständnisses und anspruchsvoller kognitiver Funktionen, einschließlich guter Gedächtnisleistungen, die es den Kindern ermöglichten, von den Eltern zu erlernen, das Nahrungsangebot auszunutzen. Das mit der Nahrungsaufspreizung einhergehende und anwachsende Risiko sich zu vergiften, führte bei manchen Individuen zur erwähnten Übelkeitspotenz und setzte sich als eine der Innenweltalarmierungsthemen schließlich evolutionär durch.
Der zweite Gefahrenhorizont: Sozialgefahren
Der
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