Die Logik des Verruecktseins
Körperöffnungen sind, ähnlich wie der von Schwellung und Erstickungsfolge bedrohte Mundschlund, übersät mit alarmierungsbereiten Sensorien, da hier ungestörte Funktionalität in höchstem Maße wichtig für den Organismus ist. Kommt es zu Irritationen im Bereich der Körperöffnungen, wird über das evolutionär erworbene Alarmierungssystem das Alarmsignal »Angst« ausgelöst und der gesamte Organismus auf die Gefahrensituation und ihre Realpräsenz aufmerksam gemacht. Deshalb ist das Besorgtsein der ständige Begleiter komplexeren biologischen Lebens.
Entstehung des menschlichen Bewusstseins zur Sorgenentlastung
Ein Bewusstsein zu haben ermöglicht, sorgenfrei aufmerksam zu sein, während bewusstseinsferne Strukturen ununterbrochen besorgt ihre Frühwarnarbeit tun. Ähnlich wie Sie als Bewohner in Ihrer Lottovilla sich »komplexeren« Tätigkeiten widmen können, also jetzt dann doch endlich in aller Ruhe die Steuererklärung vorbereiten, während die Alarmanlage fern Ihres Bewusstseins die Überwachungsarbeit leistet. Eine Bewusstseinstheorie, welche die Entstehung des Phänomens Bewusstsein evolutionär begründet und auf eine Sorgenentlastung bei realer Sorgenüberflutung zurückführt, muss noch geschrieben werden. Ihr Merkspruch könnte lauten: Wenn die Angstpotenz eines Individuums sich evolutionär zu einer kritischen Masse verdichtet, wird koevolutionär zur Angstpotenz eine neuronal gebildete, informationszentrierte Ein- und Austrittspforte des Gehirns und seiner Leistungen erforderlich, die nicht versteht und nicht verstehen darf, wie vielgestaltet und tief die Angstgründe eigentlich sind. Man könnte auch weniger akademisch verschraubt sagen: Primaten haben evolutionär erklärlich ein Bewusstsein entwickelt, weil ihr Wissen über die Welt so viel Gefahren und mögliche Ängste bereithält, dass es sinnvoll wurde, ihr Gehirn zu »teilen«: in einen Bereich, der die Überwachung übernimmt und auf die möglichen Gefahren gerichtet diese möglichst früh erkennt und gegebenenfalls Alarm auslöst, und einen anderen Teil, der immer mehr von den abstrakten Dingen der Welt verstehen konnte und blauäugig, von Angst entlastet, seine Arbeit tun kann.
Maritim ausgedrückt: Weil bei einem Schiff jemand im Ausguck sitzt und auf die möglicherweise auftretenden Gefahren am Horizont achtet, hat der Kapitän den Freiraum, den er benötigt, um die Route berechnen zu können. Umgekehrt hat der Beobachter im Ausguck auch den Rücken frei, sich auf den Horizont und die lauernden Gefahren zu konzentrieren, weil er sich nicht mit der Route beschäftigen muss. Allerdings ist er es, der in Gefahrenzeiten mit seiner Warnung »Eisberg an Steuerbord!« den Kurswechsel nach Backbord vorgibt, da ein kluger Kapitän der Frühwarnkompetenz des Spähers
im Ausguck vertraut. Unser Gehirn funktioniert in einer ähnlich ökonomischen Arbeitsteilung. Manche Bereiche achten auf die Gefahrenhorizonte, das Bewusstsein aber ist von dieser Arbeit und ihren Ängsten weitgehend abgeschirmt. Die Navigation im Meer des Lebens gelingt, das heißt, das Schiff »Organismus« bleibt trotz aller lauernder Gefahren handlungsfähig, weil der Kapitän nicht auf alles achten muss und nicht alles weiß. Dass es hier zu Schnittstellenproblemen und Kurskonkurrenzen, also Entscheidungsambivalenzen des arbeitsgeteilten Gehirns kommen kann, ist offensichtlich und wird uns in der Folge noch beschäftigen.
Fehlalarm
Ihre Alarmanlage ist in Ihrem wertvollen Haus nun endlich installiert. Stolz stellen Sie diese, wie es Ihnen der Experte gezeigt hatte, scharf und legen sich endlich wieder beruhigt schlafen.
Kaum eingeschlafen, werden Sie von einem schrillen Sirenenton aufgeschreckt. Sie laufen zu der Zentrale Ihrer Alarmanlage und sehen nach, wo der Alarm denn ausgelöst wurde. An einem der Fenster! Die Kamera zeigt aber keinen Einbrecher, auch die Bewegungsmelder sämtlicher Innenräume des Hauses sind nicht ausgelöst worden. Schon ist die Polizei da und Sie öffnen den Beamten erleichtert die Tür. Man sucht das Haus ab, das Grundstück, aber nirgends findet sich ein Hinweis auf einen Einbrecher.
Schließlich entdeckt man vor dem besagten Fenster einen toten Vogel. Er war wohl im Abenddämmer gegen die Fensterscheibe geflogen und hatte dadurch den Alarm ausgelöst. Die Beamten ziehen wieder ab und Sie bleiben etwas ratlos mit dem gefiederten Einbrecher zurück.
Endlich liegen Sie wieder im Bett, leise, wie auf träumerischen Schwingen, gleiten Sie
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