Die Lokomotive (German Edition)
unseren Fingern, in den Haaren und ein Tropfen Wasser in der Vertiefung unterhalb ihres Halses. Schau mir in die Augen, sagt sie und strahlt, und wir küssen uns, unsere Zungen verschmelzen, ich schließe meine Augen, feuerrot.
„Hilfe! Hilfe!“, die Stimme Herrn Baehrs hatte sich in meinen Traum geschlichen. Die Bilder wurden von seinen Rufen weggetragen.
„Wir sind verschüttet!“, rief er.
Natürlich, dachte ich, musste er das rufen? Reichte ihm nicht ein einfaches Hilfe? Das Wichtigste war doch, dass man uns irgendwie hörte. Aber ich hatte geträumt, ohnmächtig geschlafen. Sollte ich etwas verpasst haben?
Träge hob ich meinen Arm an, der bis dahin quer über meinen Augen gelegen hatte. Wahrscheinlich war ich deswegen eingeschlafen.
Der Scheinwerfer flackerte immer noch.
Ein lautes Stöhnen von Herrn Baehr, „Holt uns hier raus!“
Mein verschwommener Blick wurde klar. Während ich meinen Arm hoch hielt, um das Geflacker abzuwehren, fiel mein Blick auf das Stück Ärmel meines weißen Hemdes, das unter dem Sakko am Handgelenk hervorschaute. Nicht ein Zentimeter war mehr weiß, das Hemd war, genau wie meine Hand, blutverschmiert, als hätte ich meinen Arm bis zu meiner Schulter in ein Fass Blut getaucht.
Wieder tropfte es auf meine Stirn. Mein Atem ging schneller, und ich wischte meine Hand, so gut es ging, an meinem Hemd ab und strich mir zitternd durch mein Gesicht und durch mein nasses Haar.
Blutstreifen zogen sich wie roher Schinken über meine Handfläche und zwischen meinen Fingern hindurch.
„Wir haben einen Volltreffer bekommen! Alle Mann raus! Raus!“, schrie Herr Baehr.
Hastig scheuerte ich meine Hand am Hemd ab und hielt die saubere Seite Richtung Tropfen.
Treffer. Ich drehte die Hand um. Blut. Es tropfte Blut. All die Tropfen kamen von keiner Maschine, sondern von einem Menschen.
Die Stimme des alten Mannes geriet in den Hintergrund, als hätte jemand eine gepolsterte Tür zwischen uns zugeschlagen, „Ernst, Mensch Ernst, sag was, wach auf! Guckt euch den Ernst an, sein Gesicht ...“
Da oben verblutete jemand, wenn er oder sie nicht schon tot war, und seine Lebensflüssigkeit versickerte in meiner Kleidung und in meinen Haaren.
Ich suchte über mir die Quelle der Tropfen. Mit meinem freien Arm blockte ich das gleißende Weiß des Scheinwerfers, so gut es ging, und erlaubte meinen Augen, sich an das neue Lichtverhältnis zu gewöhnen, während die Tropfen in meiner ausgespreizten Hand zerplatzten und mein Gesicht benetzten. Die Lippen hatte ich zu einem schmalen Strich zusammengepresst, um bloß nichts zu schlucken.
Erst verwandelte meine Vorstellungskraft die Trümmerteile in schmerzverzerrte Grimassen und wieder zurück zu Bündel von Schläuchen und verbogenem Stahl, dann erkannte ich in etwa drei Meter Höhe, schwer gegen das flackernde Licht auszumachen, eine halbe Hand mit zwei abgerissenen Fingern, die über eine Metallplatte ragte.
Mein Gehirn sträubte sich zunächst gegen das Bild. Es musste etwas anderes sein, etwas, das nur so aussah. Aber was auch immer ich versuchte darin zu sehen, es blieb eine zerstörte, menschliche Hand, eine Männerhand.
Mein Puls rauschte laut in meinen Ohren.
Herr Baehrs Stimme dumpf und weit entfernt, „Grabt, grabt, los grabt! Der Ernst ist tot! Wir ersticken hier, ich will nicht sterben.“
Weiterhin blockte ich die Lichtquelle mit meinem freien Arm, so dass ich mehr erkannte, als mir lieb war. Ich konnte meinen Blick nicht von der Hand des Toten abwenden, die sich mir entgegenstreckte, als wollte er mir die Hand reichen, mir aufhelfen, in einer Haltung, die an das Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle erinnerte, wie der fleischgewordene Albtraum Michelangelos. Schwach waren die ausgefransten Enden der Wunde zu erkennen, und der dunkle Faden, der vom Handgelenk über den noch vorhandenen Daumenballen und den Zeigefinger zu dessen Spitze führte, von der das Blut heruntertropfte. Am Fingeransatz vereinte sich die Blutspur mit dem Blut, das aus dem Riss floss, wo einst der kleine und der Ringfinger saßen.
Ein weiterer Tropfen traf mein blutdurchtränktes Haar, schwerer als zuvor.
Ich schrie, unverständlich und laut, einfach laut.
„Herr Ochs, Herr Ochs!“, rief mich die vertraute Stimme von Herrn Baehr.
Ich atmete durch meinen weit geöffneten Mund und wehrte den nächsten Tropfen Blut mit meinem Ärmel ab, als könnte ich mich durch
Weitere Kostenlose Bücher