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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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erfreut, „Ich liege auf der anderen Seite, Herr Ochs! Das muss der Wagon sein. Ich liege gleich auf der anderen Seite.“
      „Ach ...“
      „Ja. Kommen Sie nicht oben drüber?“
      Die Überlegung hatte ich in der Tat noch nicht angestellt. Ich dachte schon wie ein Tier, das zu seiner zweidimensionalen Fortbewegungsweise verdammt ist. Als ob ein Oben für mich nicht mehr existieren würde. Mit Mühe drehte ich meinen Kopf so, dass ich die Trümmerteile über mir sehen konnte.
      „Und?“
      „Warten Sie“, sagte ich, „Ich versuche gerade etwas zu erkennen.“
      Aber egal, in welche Richtung ich meinen Kopf bog, der Haufen Schrott lag in dicken Schichten zusammengeschoben.
      „Nein, unmöglich.“
      „Unten drunter her?“
      „Wie?“
      „Unter dem Wagon durch.“
      „Ich bin kein Wurm.“
      „Sie können aber graben!“
      Ich lachte gekünstelt auf, „Aber nicht unter einem Wagon durch. Der ist gut fünf Meter hoch und liegt auf der Seite. Der wird sich tief in das Watt gedrückt haben. Und ich habe leider keine Schaufel oder Spaten dabei.“
      „Brauchen Sie nicht. Der Wagon ist nicht fünf Meter hoch. Die Aufbauten sind abgerissen, so weit ich sehen kann. Es müsste nur die stählerne Bodenplatte sein. Sie sehen die Unterseite, und ich sehe die Oberseite.“
      Das Wasser fühlte sich nicht nur kalt an, sondern auch seltsam gut. Es war Meerwasser, und ich sah wieder mein Spiegelbild vor mir, wenn auch nur dunkel und undeutlich. Die Krustenplacken getrockneten Blutes eines fremden Menschen und Schlamm bedeckten mein Gesicht.
      Ich wusch mich, im Liegen, einhändig, sorgfältig, mit geschlossenen Augen, hoffend, dass sich unter mir ein weißes Waschbecken befinden würde, sobald ich meine Augen wieder öffnete. Ich klatschte mir mit einer Hand Wasser ins Gesicht und rieb den Dreck ab, wobei ich das helle Platschen des Wassers genoss, wenn es von meinem Gesicht auf die Meeresoberfläche regnete. Es hörte sich frisch an, lebendig. Die Luft an meiner Haut tat gut, und ich schmeckte das Meersalz in meinen Mundwinkeln.
      „Was tun Sie da, Herr Ochs?“
      „Ich wasche mich.“
      Als sich mein Gesicht sauber anfühlte, schlug ich die Augen auf und betrachtete für einen Moment die tintige Brühe, auf der die abgewaschenen Blutklumpen dahintrieben. Meine sauberen Finger waren von der permanenten Feuchtigkeit runzelig, und tote Haut klebte an ihnen weiß wie zerquetschte Fliegenlarven.
      Ich drehte mich auf den Rücken und verschränkte meine Arme unter meinem Kopf, damit ich ihn nicht weiter hochhalten musste. Meine Nackenmuskeln dankten es mir.
      Die mich umzingelnden Wände waren eng wie eine Röhre. Es war, als rückten die Schollen aus Stahl und Plastik näher zusammen, um mir eine finale Falle zu stellen, und es brauchte nicht viel Phantasie, in den Schatten und Spalten ihr Grinsen zu erkennen. Verdrehte Gummidichtungen von Fenstern schlangen sich mir ebenso entgegen wie die zackigen PVC-Platten, deren Ecken wie Lanzen auf mich zeigten. Meine Alternativen waren auf eine einzige geschrumpft. So könnte ich auf meinen Tod warten. Ich könnte einfach so liegen bleiben, bis der Wasserspiegel um mich herum ansteigen und sich über meiner Nasenspitze schließen würde. Ich begann zu zittern, ich fror.
      „Also?“, fragte Herr Baehr.
      Ertrinken stellte ich mir grausam vor. Ersticken, das Winden des Körpers, während sich jede Zelle nach Sauerstoff sehnt. Ich könnte mich auf das Sterben einrichten, aber ich wollte nicht elendig verrecken. Schon bemerkte ich, wie ich nach einem scharfen Gegenstand Ausschau hielt. Einfach die Pulsadern aufschneiden und entspannt verbluten. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich an Selbstmord dachte. Nicht einmal als Teenager hatte ich mit dem Gedanken gespielt. Es hatte nie einen Grund gegeben.
      „Also?“, rief Herr Baehr lauter.
      „Was also?“
      „Graben Sie?“
      „Wie soll das denn gehen?“
      „Sie können ja auch zurück, und ...“
      „Zurück geht nicht, dort habe ich alle Möglichkeiten getestet. Von dort kommt das Wasser. Hier ist es auch. Das war’s, das ist es, das Ende.“
      „Herr Ochs, Sie haben mir versprochen, nicht aufzugeben.“
      „Machen Sie sich nicht lächerlich!“
      „Versprochen!“
      „Ich gebe ja nicht auf. Es gibt nichts mehr zu tun für mich!“
      „Graben Sie sich durch!“
      „Himmel!“, ich fuhr herum, unbeherrscht schaufelte ich mit meiner

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