Die Lokomotive (German Edition)
Gewirr, und eine Handtasche fiel vor mir zu Boden. Sie war offen und eine Bürste rutschte heraus. Alles war feucht und von einer dunklen, öligen Flüssigkeit bedeckt. Sie jagte mir zuerst einen Schrecken ein, weil ich direkt an Blut dachte, aber sie war bräunlich, wie Sirup, und roch nach Maschine.
Ich schüttete den Inhalt der Handtasche vor mir auf eine zerbeulte Blechkiste, die aus dem Wasser ragte. Tempos, Kosmetika, ein Adressbuch, Geldbörse, Papiere, das Zugticket fielen auf einen Haufen, ein Lippenstift rollte ins Wasser und mitten im Durcheinander ein Handy.
Meine Hand schnellte vor, klappte es auf und tippte auf den Tasten herum, aber aus dem Gerät lief die Maschinenflüssigkeit. Ich öffnete den Batteriedeckel, entnahm den Akku, pustete auf ihn und rieb ihn an meinem Hemdkragen ab. Dann setzte ich ihn wieder ein, hoffte und tippte vergebens, nichts tat sich. Auch dieses Handy war kaputt.
„Wo sind Sie?“, rief Herr Baehr.
„Hier. Ich habe ein Handy gefunden, in einer Handtasche. Aber es ist kaputt. Es hat Feuchtigkeit abbekommen.“
„Was für ein Pech.“
Ja, was für ein Pech, wiederholte ich in Gedanken seine Worte, „Ich schaue noch durch, ob ich etwas Brauchbares finde, ein Messer oder so.“
„Machen Sie das.“
Aber es gab kein Messer, nicht einmal eine Feile hatte Frau Dr. Petra Simovic dabei. Ich hielt ihren Ausweis vor mir. Sie hatte kommenden Montag Geburtstag. Sie würde 40, ein runder Geburtstag. Hatte sie die Einladungen schon verschickt? Wollte sie groß feiern?
1,64 Meter war sie groß, wohnhaft in Hannover. Verheiratet.
Ich steckte den Ausweis in die Brusttasche meines Hemdes. Macht man das nicht in solchen Situationen? Für die Angehörigen? Die Flut würde doch all diese persönlichen Gegenstände ins offene Meer mitnehmen.
Welche Angehörige hatte ich? Das Einzelkind eines Einzelkindes, das lange verstorben war. Unverheiratet.
Ich legte das Handy zurück und entdeckte eine halbe Tafel Schokolade in der Handtasche. Vollmilch-Sahne. Speichel sammelte sich in meinem trockenen Mund. Ich brach einen Riegel entzwei und aß eine Hälfte. Die Süße des Zuckers und der Geschmack des Kakaos verdrängten den toxischen Belag auf meiner Zunge. Die Schokolade wirkte beruhigend, gerade so, als sei es eine trügerische Garantie darauf, dass alles wieder gut werden würde.
Ich steckte den Rest des Riegels in den Mund und öffnete knisternd die Verpackung. Ein Riegel war übrig. Der gehörte Herrn Baehr, meine kleine Überraschung für ihn. Ich faltete die Verpackung zusammen und verstaute sie in meiner Brusttasche.
Der Zucker machte mich durstig. Selten aß ich Süßes, ohne etwas dabei zu trinken. Und ich hatte schon einige Zeit nichts getrunken. Lieber hätte ich etwas zu trinken gefunden.
Als Nächstes nahm ich das schmale Adressbuch auf. In das weinrote Lederimitat des Umschlages war der Name einer Firma, Rentee Limited, golden eingraviert. Vielleicht arbeitete sie für die Firma, oder sie hatte sie selbst angemeldet. Billige Adressbücher wie diese wurden den Betreibern von Firmen zugeschickt, in der Hoffnung, man würde bei Gefallen mehr davon bestellen.
Ich schlug die Seiten auf, blätterte durch Namen, Adressen und Telefonnummern, manche durchgestrichen, alles in allem uninteressant.
Die Doppelseite X,Y,Z war leer. Sie kannte niemanden, dessen Namen mit einem dieser Buchstaben begann. Ohne zu wissen wozu, zog ich den Kugelschreiber aus meiner Brusttasche heraus. Noch vor meinem Kopf war mein Körper dazu bereit, eine Nachricht zu verfassen, einen Abschiedsbrief, ein Testament.
Aber an wen?
Ich hatte keine Kinder, meine Mutter war verstorben und mein Vater seit meinem zweiten Lebensjahr unbekannt verzogen. Ich war unverheiratet und betrog meine Verlobte.
Hätte ich etwas anders machen können? Plötzlich kam mir mein Privatleben vor wie eine Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen. Meine Karriere hingegen verlief bestens, vielleicht sogar zu gut. Das waren gleich zwei Gedanken, die mir noch nie zuvor in den Sinn gekommen waren, ich hatte schlichtweg nicht die Zeit dazu. Ich hatte mir nicht die Zeit genommen, und niemand hatte sie mir gegeben.
Francesca freute sich jetzt wahrscheinlich auf den Abend mit ihren Freundinnen. Sie hatte sich mit ihnen verabredet, gleich nach dem ich ihr von meinem Seminar in Sylt erzählt hatte.
Lilli wartete auf mich in ihrem Hotelzimmer. Es konnte sein, dass sie
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