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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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bereits von der Katastrophe erfahren hatte. Vielleicht war sie vom Hotel zum Bahnhof gefahren oder saß bei einem Priester, der zum Stab zur Krisenbewältigung gehörte, den man auf Sylt eingerichtet hatte.
      Vielleicht schätzte ich meine Bedeutung für sie auch falsch ein.
      Unterm Strich hatten wir eine rein sexuelle Beziehung, wenn es so etwas gibt. Aber es konnte gut sein, dass sie es im Ernstfall war, die meine Zeilen zuerst lesen würde. Würde sie den Zettel danach zurückgeben? Anonym an Francesca weiterleiten? Oder werden solche Dokumente nicht ohne weiteres nach einem Unfall an Menschen ausgehändigt, die behaupten, sie würden das Opfer kennen?
      Lilli würde konkret nach meinem Namen fragen.
      Sollte der Finder entscheiden.
      Auf meinem Bauch im flachen Wasser liegend und mich mit meinen Ellbogen abstützend, kritzelte ich los. Ich schrieb klein, eng und nutzte alle Zeilen:
    Meine Liebe,
    ich weiß nicht, ob du jemals diese Zeilen lesen wirst. Ich hatte die Zugkatastrophe, den Unfall selbst überlebt, und ich habe mich wegen der Flut auf den Weg durch die Trümmer gemacht. Ein Herr Baehr lebt auch noch.
    Dieser Zettel stammt aus einer Handtasche, die ich gefunden hatte. Ihn werde ich bei mir tragen. Ich habe sehr viel über uns nachgedacht. Ich liebe dich sehr. Solltest du diese Zeilen lesen, dann habe ich den Unfall letztendlich doch nicht überlebt. Obwohl ich zurzeit so gut wie unverletzt bin. Vielleicht werde ich von den Trümmern erdrückt oder ich ertrinke, beides kann sein. Wer weiß. Für den Fall, dass ich sterbe und Du diese Zeilen liest, bitte trauere nicht zu lange um mich. Lebe!
    Und nun mein Testament. Zeugen habe ich keine, aber ich bestätige, dass ich im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte bin. Ich verfüge nach meinem Tod über mein Vermögen Folgendes:
    Das Apartment bekommt Frau Francesca Pellicano. Sämtliche Optionsscheine sollen bei einem Limit von 40% oder beim gesetzten Stop-Loss abgestoßen und die Summen auf Frau Francesca Pellicano überschrieben werden.
    Termingeldeinlagen sollen nach Fälligkeit ebenfalls Frau Francesca Pellicano ausgezahlt werden. Das auf meinen Namen laufende Konto bei der Zürichbank in der Schweiz soll dort verbleiben aber eins zu eins auf Frau Francesca Pellicano übertragen werden.
    Equity-Einlagen sollen nach der nächsten Ausschüttung verkauft und dem Roten Kreuz geschenkt werden.
      Für einen Moment kam ich mir vor, als wollte ich mir den Weg ins Paradies erkaufen. Noch nie hatte ich mehr als steuerlich notwendig einer karitativen Einrichtung gespendet. Durch mein Testament war Vorder- und Rückseite voll, nur noch eine Zeile blieb mir.
      Ich quetschte ein Ich liebe Dich und Viel Glück im weiteren Leben, Thomas darunter.
      Sollte Lilli den Brief zuerst lesen, würde sie mich verstehen. Sie würde mich sicherlich auch nicht in ihrem Testament erwähnen.
      Würde sie zu meiner Beerdigung kommen? Ich hatte nichts über die Art meiner Beerdigung verfügt. Nicht, dass ich mir jemals darüber Gedanken gemacht hatte. Eine Erdbestattung, eine Feuer- oder eine Seebestattung?
      Ich pustete über das Wasser unter mir. Die Oberfläche kräuselte sich und die darauf schwimmenden Trümmerteile trieben fort, „Eine Seebestattung bekomme ich bald gratis.“
       Ein Grabstein? Und was sollte darauf stehen? Ein Grabstein würde nur Sinn machen, wenn einer nach meiner Beerdigung hingehen würde.
      Welche Beerdigung, dachte ich. Drehte ich jetzt durch?
      Aber was, wenn dies das Ende wäre? Mein Leben könnte heute sein Ende finden, in der Tat war es ein Wunder, dass ich bisher mit meinem Leben davon gekommen war. Mit was für einem Leben? Mein Drive, den Zertifikatehandel zu einer Kunstform zu erheben und mir so den finanziellen Background zu schaffen, bei dem ich mir jeden Wunsch erfüllen konnte, wäre für immer versiegt.
      Hatte ich diesen Weg gewollt, oder entsprang meine Karriere der Angst vor dem Lebensstil meiner Mutter, dem Jungen, der in seiner Kindheit auf vieles verzichten musste?
      Die Antwort konnte ich mir selber geben. Und wenn ich sie akzeptierte, dann würde das auch bedeuten, dass ich eigentlich nie erwachsen geworden bin, sondern vielmehr den im Voraus gepflasterten Pfad beschritten hatte, ohne mir meinen eigenen Weg zu suchen, auf Basis meiner Wünsche, meiner Erwartungen.
      Was erwartete ich vom Leben, was waren meine eigenen Wünsche?
      „Was wünsche ich mir wirklich?“, weil ich diese

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