Die Lokomotive (German Edition)
Frage weder jemals gedacht noch geäußert hatte, flüsterte ich sie vor mich hin, „Was wünsche ich mir von ganzem Herzen?“
Die Worte öffneten ein Tor zu einer anderen Welt. Zu einer Welt, wo den Wünschen noch der Zauber der Kindheit anhaftete und über die simple Erfüllung vorgekauter Bedürfnisse hinausging. Ich hatte mir Bedürfnisse erfüllt mit meinem Geld, aber nicht meine wahren Bedürfnisse, nicht einmal meine. Sie waren keine Wünsche. So gesehen hatte ich mir noch nie im Leben einen Wunsch erfüllt. Ich hatte noch nie einen Wunsch gehabt. Ich war 40 Jahre lang wunschlos zufrieden gewesen. Und jetzt befand ich mich in einer Situation, die mir keinen Platz für Wünsche einräumte. Alles, was mir blieb, war darüber nachzudenken, was ich bisher bereute. Keine schöne Erkenntnis.
Ich steckte den Stift zurück in meine Brusttasche und riss mein Testament aus dem Büchlein. Einige Wörter gingen dabei am Rand verloren, aber sie beeinträchtigten nicht die Verständlichkeit meiner Zeilen. Dann faltete ich den Zettel zusammen, stopfte ihn zu den anderen Sachen in meine Brusttasche und kroch demonstrativ und entschlossen weiter.
Das Wasser wurde tiefer. Jetzt hatte ich keine andere Wahl. Der Gang war so schmal und niedrig, dass ich auf dem Bauch, die Arme nach vorne ausgestreckt, durch die Pampe robben musste. Dabei reichte mir das Wasser bis zum Kinn, aber ich lag auch flach auf dem Boden, den Kopf hochgestreckt. Um mich herum plätscherte es, spritzten einzelne Tropfen in mein Gesicht.
Hoffentlich schwemmte das Wasser nicht mein Testament weg.
Ich biss auf meine Zähne gegen die schneidende Kälte, die von meinem ganzen Körper Besitz ergriffen hatte.
„Wo sind Sie, Herr Ochs?“
„Hier!“
Meine Nackenmuskeln schmerzten. Den Kopf dauernd hochzuhalten war nicht leicht. Ich atmete aus, ins Wasser, es blubberte.
„Was ist?“, fragte Herr Baehr.
Meine Niedergeschlagenheit war wohl selbst aus einem einzigen Wort klar herauszuhören. Wenn man den anderen nicht sehen kann, hört man wahrscheinlich genauer hin.
Francesca und ich hatten uns einmal gestritten, zwei Uhr morgens, ich kam spät nach Hause von Lucios, und sie stellte mich. Francesca hatte auf mich im Dunklen gewartet. Ihre schöne Silhouette mit ihren in die Hüften gestemmten Armen hob sich vom Weiß der Bodenkacheln ab, die vom Vollmond durch die großen Loftfenster hell erleuchtet waren. Die Schatten der Fenstergitter kreuzten die Fugen am Boden diagonal. Bevor ich das Licht im Flur anschalten und fragen konnte, warum keine Musik spielte, fing sie an. Sie war eifersüchtig. Francesca wurde laut, glaubte mir nicht, dass ich mich ausschließlich mit Markus traf, und das nur um zu erzählen, niemals!
Ich schrie zurück, was das solle? Ich hatte einen Supertag mit Rinderhälften in Chicago gehabt und danach mit ihm gefeiert.
Sie achtete gar nicht darauf und hielt mir sämtliche vermeintlichen Verfehlungen der letzten zwei Jahre vor, jede Kleinigkeit, vom Falten der Kissen, was den Bezug ruinieren würde, bis zu dem Telefonat mit einer Bekannten.
Wir keiften uns an, bis die Schatten der Fensterrahmen parallel zu den Fugen verliefen. Mit einem Mal hatte sie genug und verschwand im Schlafzimmer.
Während der ganzen Zeit hatte keiner von uns das Licht angeschaltet, hatten wir unsere schwarzgrauen Gestalten angeschrien, ohne mögliche Reaktionen in unseren Gesichtern ablesen zu können. Und ich dachte damals, als ich alleine neben dem Aquarium stand, vielleicht haben wir uns nur so streiten können, weil wir unsere Augen nicht sehen konnten.
Vor mir blockierte die Unterseite eines Wagons meinen Weg. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht. In dem einen Moment schlängelte ich mich durch einen Knäuel von Kabelbäumen, und im nächsten lag ich reglos im handtiefen Schlamm vor diesem unüberwindbaren Ungetüm.
Zurück zu kriechen konnte ich vergessen. Das wars, jetzt blieb mir nur das Warten. Das Warten auf meinen Tod. Ich atmete geräuschvoll aus und sagte so laut, dass Herr Baehr es hören konnte, „Ich komme nicht weiter.“
„Warum nicht?“
„Weil mir ein Wagon den Weg versperrt!“
„Was für ein Wagon?“, fragte er schnell.
„Ich liege unter einem entgleisten Zug, wissen Sie!“
„Ich meine, was sehen Sie von dem Wagon?“
„Hier ist die Unterseite, der ...“
Er unterbrach meinen Versuch, die Lage des Wagons zu beschreiben und rief
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