Die Lucifer Direktive
ein wenig, aber nicht so, daß er die beiden uniformierten Gestalten vor sich nicht hätte erkennen können. Er stürzte sich zuerst auf den rechten, nicht, weil er am nächsten stand, sondern weil er ein Maschinengewehr hielt, während der andere noch mit der Tür beschäftigt war. Josh hatte schon zugestoßen, ehe seine Füße nach dem Sprung wieder den Boden berührten. Die Klinge schnitt in das zarte Fleisch der Soldatenkehle. Ein blutroter Sturzbach schoß heraus.
Josh hatte sich zu dem anderen Soldaten umgedreht und sich genauso auf ihn gestürzt, als er merkte, daß sein Messer noch in der Kehle des Toten steckte. Aber er stockte nicht in seiner Bewegung, ballte die Faust und stieß sie ein-, zwei-, drei- oder mehrmal vor. Es reichte, um den Soldaten zurücktaumeln und sich an die Kehle greifen zu lassen, statt nach seinem Gewehr. Da war Josh schon abgetaucht, rollte sich unter dem Zug hindurch auf die andere Seite, die ihm die Freiheit versprach. Dort war freies Gelände, dahinter war der Wald.
Er war nicht sicher, wie lange sie ihn jagten und wie dicht die Kugeln pfiffen oder wie er ihnen mit einem Bein entkommen konnte, das er praktisch nicht belasten durfte. Er wußte nur, daß der Zug einige Stunden später weiterfuhr und die Soldaten fort waren. Er war gerettet, aber auch verloren, da er nicht wußte, wo er sich befand oder wohin er sich wenden sollte. Er war hungrig, durstig und verängstigt und konnte nicht sagen, was das Schlimmste war. Wahrscheinlich alles der Reihe nach. Als er gerade glaubte, irgendwo angekommen zu sein, stellte er fest, daß er am Ausgangspunkt angelangt war. Die ganze Zeit war er im Kreis gelaufen. Dann hatte eine Schar kleiner dunkler Vögel mit ihrem charakteristischen Gesang seine Aufmerksamkeit geweckt. Spatzen …
Aus Verzweiflung, oder vielleicht auch Instinkt, war er in ihre Flugrichtung marschiert und zu einer kleinen Stadt gelangt, von wo aus er seine Flucht aus Deutschland begann. Mit seinem blonden Lockenschopf und den feinen Gesichtszügen wirkte er eher arisch als jüdisch – die beste aller Verkleidungen. Damit ließ er die Person, die er sechzehn Jahre lang gewesen war, für immer hinter sich, als hätte Joshua Cohen nie existiert. Statt seiner ward ein neuer Mensch geboren, der sich nach der englischen Bezeichnung für jene Vögel nannte, die ihn in Sicherheit gebracht hatten … Sparrow.
»Du denkst daran einzugreifen, oder?« fragte Yakov ihn.
Eine alte Frau erschien mit einem Tablett auf der Veranda, auf dem ein Krug und zwei Gläser standen. Sie setzte es auf den Tisch und füllte beide Gläser mit funkelndem Tee. Eiswürfel schwammen zur Krugöffnung und plumpsten in die Gläser. Yakov leerte sein Glas mit einem Zug und füllte sich nach, als die alte Frau davonschlurfte.
»Bleibt mir eine andere Wahl?«
»Überlaß es den anderen, Sparrow.«
»Die haben es bereits versucht.«
»Es könnte sich um eine einmalige Aktion handeln.«
»Terroristen glauben nicht an einmalige Aktionen, schon gar nicht diese.«
Sparrow wandte den Blick zum vorderen Tor, wo der Milchwagen mit der zweimal wöchentlich gelieferten Ration angekommen war. Wie üblich war der abgeschieden gelegene Kibbuz seine letzte Station. Der Wachtposten überprüfte die Papiere des Fahrers.
»Vierzig Kinder wurden ermordet«, fuhr Sparrow fort. »Verstehst du denn nicht? Ich muß nach Amerika, ehe die Killer wieder zuschlagen.«
»Ich verstehe nur, daß du deinen Traum vom friedlichen Leben im Kibbuz ohne Sorgen und Morden und Tod aufgibst, den du vierzig Jahre lang gehegt hast. Das alles hast du hier und gibst es auf.«
Der Milchwagen rollte über die schlechte Zufahrt aufs Haus zu, als die Hinterräder durchdrehten. Sie versanken im Matsch, drehten weiter durch und kamen schließlich frei. Der Transporter rollte weiter.
»Da irrst du dich, Yakov. Ich hatte es nie. Manchmal tat ich so, aber die Vergangenheit hat mich immer verfolgt. Ich nehme an, ich wollte es nicht anders. Weshalb sonst hätte ich diesen Flecken Erde als Ruhesitz wählen sollen, von wo aus wir vor vierzig Jahren Waffen in ein winziges Land schmuggelten, das niemand überleben lassen wollte? Manchmal glaube ich, noch die Furchen zu sehen, die die kleinen Transportflugzeuge bei der Landung hinterließen. Heutzutage sind es nur noch Traktorfurchen, aber immer wieder ertappe ich mich dabei, sie aus Gewohnheit zu vertuschen, ehe es mir einfällt. Menschen verändern sich nicht; sie fliehen nur von denen, die sie einst
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