Die Ludwig-Verschwörung
verbrannt. Und auch du warst wie vom Erdboden verschluckt.«
»Weil ich den Namen Lukas angenommen hatte«, flüsterte Steven und sah seinen eigenen zerknüllten Nachnamen als Papierschnipsel vor sich auf dem Mosaik liegen. »Den Nachnamen meiner Pflegeeltern.« Wie Nebelschleier huschten noch einmal die Bilder von damals durch seinen Kopf, unwillkürlich fröstelte es ihn. »Das Buch hat mich wieder an damals erinnert«, stöhnte er. »Deshalb hab ich auch nicht von ihm lassen können. Es ist wirklich ein Zauberbuch, ein Zauberbuch mit einem Fluch darin. Der Fluch meiner Abstammung!«
»Nun, letztendlich ist dieses … Zauberbuch zu mir zurückgekehrt«, sagte Luise und schloss kurz die Augen wie zum Gebet. »Jetzt ist es allerdings an der Zeit, eine kleine Reise anzutreten. Ich wollte euch doch das Schloss zeigen, nicht wahr?« Die Konzernchefin wies lächelnd zum Ausgang. »Ich kenne einen Ort, wo ihr das Gebäude in seiner ganzen Pracht erleben könnt. Wie sagt man so schön? Neuschwanstein sehen und sterben.«
39
Z usammen mit Lancelot, den drei bewaffneten Schlägern und Luise Manstein verließen sie den Thronsaal und stiegen die breite Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss.
Steven und Sara taumelten mehr, als sie gingen, die Erlebnisse der Nacht ließen die Gemälde, Torbögen, Gewölbe und Theaterkulissen um sie herum zu einem einzigen Alptraum gefrieren. Während sie die Mündungen der halbautomatischen Gewehre in ihrem Rücken spürten stolperten sie durch das weit verzweigte Gangsystem, bis sie schließlich wieder ins Freie traten.
Kalter Herbstwind umwehte Steven. Sie standen an der Nordseite des Schlosses, unweit des Tors, durch das sie Neuschwanstein vor einer gefühlten Ewigkeit betreten hatten. Der Antiquar hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er vermutete, dass es kurz vor Sonnenaufgang sein musste; am Horizont glaubte er, einen ersten zarten Schleier der Morgendämmerung zu sehen. Davon abgesehen war es noch immer stockfinster.
»Wo … wo bringt ihr uns hin?«, keuchte er, von den vielen Stufen und Gängen noch ganz außer Atem. Die Männer hatten sie wie Schlachtvieh vor sich hergetrieben.
»Das wirst du gleich sehen, lieber Vetter.« Luise deutete mit dem Derringer nach links, wo ein kleiner Pfad am Schloss entlangführte »Einen schöneren Aussichtsplatz gibt es in ganz Neuschwanstein nicht.«
Sie ließ eine lange Stablampe aufflammen, die ihnen den Weg durch den dunklen Wald wies. Auch Luises Helfer trugen Taschenlampen, dünne Lichtstriche huschten über den ausgetretenen Weg, der sie schließlich zu einer breiteren Straße brachte. Nach einigen Minuten verließen sie die Straße und stolperten ein Stück über eine kleine, baumbewachsene Anhöhe. Von irgendwoher war das Rauschen eines Gebirgsbachs zu hören.
Endlich blieb Luise Manstein stehen, sie hielt ihre Taschenlampe geradeaus, und Steven erkannte eine schmale Brücke, die vor ihnen durch die Finsternis führte. In der Dunkelheit wirkte sie wie der Eingang zur Hölle.
»Die Marienbrücke über die Pöllatschlucht«, erklärte die Konzernchefin ehrfurchtsvoll. »Schaut selbst, der Anblick ist gigantisch!« Sie gab Steven einen Schubs, und gemeinsam mit Sara taumelte er auf die Brücke zu, wobei zwei ihrer Aufpasser vor ihnen und die beiden anderen hinter ihnen in Position gingen. Nun klang das Rauschen ganz nah.
Das Panorama war tatsächlich unvergleichlich.
Unter ihnen, in fast hundert Metern Tiefe, lag die Pöllatschlucht. Ein turmhoher Wasserfall ergoss sich tosend in ein Felsbecken und floss von dort weiter als reißender Gebirgsbach hinab ins Tal. Links und rechts ragten gewaltige Felsen auf. Gegen Osten erhob sich zwischen den herbstbelaubten Bäumen Schloss Neuschwanstein wie eine weiße Feenburg, hinter der sich in genau diesem Augenblick das erste milde Rot der Morgensonne zeigte.
»Na, hab ich euch zu viel versprochen?« Luise Manstein lehnte verträumt an dem brusthohen Metallgitter und blickte in den Sonnenaufgang. Sie machte mit der Hand eine umfassende Geste über die neblige Bergwelt der Alpen. »Ist das nicht ein schöner Ort zum Sterben, Frau Lengfeld? Wir sind ganz allein, die ersten Wanderer werden erst in ein paar Stunden kommen. Und dann wird man eine bedauernswerte Touristin am Grunde der Pöllatschlucht finden, ein Opfer ihrer eigenen Unvernunft.« Kopfschüttelnd betrachtete sie Saras hochhackige Schuhe. »In Pumps sollte man auch wirklich keine Bergtour machen. Haben Sie die Warnschilder nicht
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