Die Ludwig-Verschwörung
nervös; sie erinnerte ihn an den dunklen Keller seines Antiquariats, wo er erst gestern Nacht in Notwehr einen Menschen erschlagen hatte. Steven spürte, dass er mit einem Menschen reden musste, auch wenn dieser Mensch ein chipskauendes apathisches Wesen war, das gelangweilt in einen Fernseher starrte.
»Surflehrer, Barbecue und vollbusige Blondinnen!«, knurrte er und deutete auf den flimmernden Kasten. »Für was haben Sie eigentlich studiert?«
»Was?« Sara nahm die Kopfhörer runter. »Reden Sie mit mir?« Als sie seinen genervten Blick sah, musste sie unwillkürlich lächeln.
»Männer können das nicht verstehen«, erwiderte sie trocken. »Wir brauchen das, um uns in einen Zustand der Trance zu versetzen, der es uns ermöglicht, in höhere Bewusstseinszustände vorzudringen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Außerdem ist dieser Müll aus Ihrem Heimatland. Also ein bisschen mehr Patriotismus bitte, Mister Lukas.«
»Wenn das Amerika ist, bin ich froh, dass meine Eltern mit mir als Kind nach Deutschland zurückgegangen sind«, erwiderte Steven trotzig.
»Zurück?« Sara runzelte die Stirn.
»Wir haben deutsche Wurzeln.« Steven nahm einen Schluck vom Hotel-Rotwein und verzog angewidert den Mund. Der Spätburgunder schmeckte erwartungsgemäß grauenhaft, trotzdem verschaffte er ein angenehmes Gefühl der Schwere. Es tat gut zu reden, er hatte schon so lange nicht mehr über früher gesprochen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten dafür gesorgt, dass die Erinnerungen an seine Kindheit wieder an die Oberfläche gekrochen kamen.
Nur keine Stille, dachte er. Mit der Stille kommen die Erinnerungen. Mit der Stille und der Dunkelheit. Wie früher in meinem Bett im Kinderzimmer, wenn die Schritte über den Flur knarzten.
»Mein Großvater ist damals während der Nazizeit ausgewandert«, begann er zögerlich zu erzählen. »Doch sein Sohn hat das Deutsche nie ganz abstreifen können. Als Erwachsener ist er mit seiner Familie wieder hierher gezogen.« Er lächelte müde. »Meine Mutter war eine deutsche Studentin, die er an der Bostoner Universität kennengelernt hatte. Mein Vater war ihr Dozent in Anglistik.«
Sara zog die rechte Augenbraue nach oben. »Ich nehme an, er hat ihr zu Hause Shakespearedramen vorgelesen. Dann liegt das Faible für Bücher wohl in Ihrer Familie?«
»Die Bücher und das Deutsche.« Steven seufzte. »Manchmal fühle ich mich deutscher als die Gebrüder Grimm.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Und Sie, Frau Lengfeld? Wo sind Sie zu Hause? Im Netz oder im Berliner Wedding?«
Sara lachte. »Ich fürchte, nirgendwo. Man ist nicht stolz darauf, wenn man aus dem Wedding kommt. Man ist stolz, wenn man ihn hinter sich lässt.«
»Und das geht am besten mit Fernsehen und Internet?«, fragte Steven neugierig.
»Nun, beides sind Fenster zu anderen Welten«, erklärte Sara. »Wenn Sie als Kind nur Comics und ein Schneewittchenbuch zu Hause haben, bietet Ihnen das Internet phantastische Möglichkeiten.« Sie setzte wieder ihren Kopfhörer auf. »Und jetzt lesen Sie mal schön weiter, Mister Grimm. Für einen scheuen Bücherwurm sind Sie ganz schön neugierig.«
Unwillkürlich musste Steven schmunzeln. Manchmal erschien ihm die aufmüpfige, vorlaute Kunstdetektivin neben ihm wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Trotzdem begann er sie immer mehr zu mögen. Es war schon lange her, dass er über einen längeren Zeitraum so eng mit einem Menschen zu tun gehabt hatte. Die meiste Zeit lebte er zwischen seinen Büchern und Pergamenten, und er war froh, wenn man ihn in Ruhe ließ. Sara hatte recht, wenn sie meinte, er käme aus einem anderen Jahrhundert. Manchmal fühlte er sich wie ein Kauz, wie ein Gelehrter aus einer fernen Zeit, die noch nicht von Handys, Computern und SMS diktiert wurde.
Mit einem prickelnden Gefühl von Spannung und Vorfreude wandte der Antiquar sich den verschlüsselten Aufzeichnungen zu. Als er in den fleckigen Seiten blätterte, spürte er zunächst wieder den vertrauten leichten Schwindel. Doch die Angst vor der Stille war verschwunden und einer stillen Sehnsucht gewichen. In Stevens Augen war die Vergangenheit tatsächlich in vielen Fällen bunter und aufregender als ein Leben im tristen 21. Jahrhundert.
Vor allem die Vergangenheit von Theodor Marot.
13
IIEAPQRX
A n jenem Septemberabend des Jahres 1885, in irgendeiner dunklen Ecke der Münchner Au, befand ich mich in so großen Schwierigkeiten wie noch nie zuvor in meinem Leben. Der König musste unverzüglich
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