Die Ludwig-Verschwörung
ihm in einen kleinen Raum, der offenbar Wohnzimmer und Küche zugleich war.
An der hinteren Wand stand ein weißer Emailleherd, der noch mit Holz befeuert wurde. Ein zerkratzter Tisch mit einigen aufgeschlagenen Büchern war in einer Ecke, in der anderen Ecke befanden sich ein Sofa und ein Fernseher, von dem Steven vermutete, dass er noch schwarzweiße Bilder zeigte. Eine Tür mit geblümtem Tapetenmuster führte in einen hinteren Raum.
»Wollte mir gerade einen Tee machen und an meinem Buch arbeiten«, brummte Onkel Lu und griff nach einem dampfenden Wasserkessel. »Mögt ihr auch einen?«
Steven nickte. »Gerne. Was für ein Buch schreiben Sie denn?«
»Über Ludwigs Beziehungen zu Edgar Allan Poe.« Zöller zuckte mit den Schultern und goss drei verschrammte Tassen mit einem dampfenden braunen Gebräu voll. »Vermutlich interessiert sich wieder mal kein Verlag dafür. War bei den letzten fünf Büchern auch schon so. Und trotzdem rennen mir die Publizisten die Tür ein. Sakrament, was glotzen Sie denn so dämlich?«
Steven zuckte zusammen. Er hatte den fetten Alten angestarrt. Die Ähnlichkeit mit dem älteren Ludwig II. war in der Tat frappierend.
»Es ist nur, äh, weil …«, begann er umständlich. Doch Onkel Lu unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.
»Ich weiß selbst, dass ich ihm ähnlich seh«, knurrte er. »Hab früher bei den Treffen der Königstreuen oft als Double herhalten müssen. Doch mit diesen verrückten Royalisten hab ich nichts mehr zu schaffen. Zu viele Spinner, keine seriösen Wissenschaftler.« Zöller schlürfte genießerisch seinen Tee. »Lassen wir’s gut sein. Ihr seid ja wegen dem Paul da. Also, wie kann ich euch helfen?«
Sara räusperte sich kurz, dann begann sie zu erzählen. Von dem Mord an ihrem Onkel, dem Fund des Schatzkästchens, dem rätselhaften Tagebuch und ihrer bisherigen Suche nach dem Lösungswort. Nur die Verfolgungsjagden in Linderhof und die Guglmänner ließ sie weg. Während ihrer Erzählung wirkte Onkel Lu wie versteinert. Seinen Tee schien er vollständig vergessen zu haben. Als Sara schließlich geendet hatte, schwieg er lange Zeit. Erst dann ergriff er das Wort.
»Dieses Kästchen mit dem Tagebuch«, begann er leise. »Dürfte ich das einmal sehen?«
»Natürlich.« Steven öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und zog den Behälter hervor. Feierlich, wie in einem Gottesdienst, strich Zöller über das lackierte Holz, dann hob er den Deckel auf und holte die Fotografien, die Haarlocke und das Buch heraus. Wie magische Artefakte ordnete er sie auf dem Tisch an.
»Kann das möglich sein?«, murmelte er. »Hat er wirklich alles aufgezeichnet?«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Sara und sah den Alten aufmerksam an. »Haben Sie von diesem Buch vielleicht schon mal gehört?«
»Es gab … Vermutungen«, erwiderte Onkel Lu zögerlich. »Nichts Genaues. Dr. Schleiß von Loewenfeld und Theodor Marot haben sich kurz nach dem Tod des Königs dazu im kleinen Kreis geäußert. Aber die Quellen sind diffus. Und jetzt das hier …«
Vorsichtig öffnete er das Tagebuch und stutzte, als er die Geheimschrift sah.
»Die Shelton-Kurzschrift, von der ich Ihnen erzählt habe«, sagte Sara und deutete auf Steven. »Herr Lukas hat sie entziffern können. Auch den ersten Vigenère-Code haben wir entschlüsselt. Aber was diese Gedichttitel angeht …« Sie seufzte. »Ehrlich gesagt, wir sind mit unserem Latein am Ende.«
»Ludwig und wohl auch Theodor Marot waren zwei zutiefst romantische Menschen.« Onkel Lu blätterte nachdenklich durch die vergilbten Seiten des Tagebuchs. »Es ist also durchaus möglich, dass der Assistent solche Gedichte zur Verschlüsselung verwendet hat. Spannender ist die Frage, was er verschlüsseln wollte. Und vor allem, warum Paul deshalb umgebracht wurde.« Er sah Steven tief in die Augen. »Ich will Ihnen glauben, dass Sie nichts mit dem Mord zu tun haben. Aber wenn Sie mich anlügen, mach ich mit Ihnen genau das, was diese Wahnsinnigen mit Paul gemacht haben. Verstanden?«
»Bei meiner Ehre, ich habe wirklich nichts …«, begann Steven, doch Sara unterbrach ihn. »Sie haben uns noch nicht erzählt, was Sie über das Buch bereits wissen«, sagte sie mit lauter Stimme, um das Thema zu wechseln. »Offenbar ist es weitaus mehr, als wir in Erfahrung bringen konnten.«
»Also gut.« Schnaufend erhob sich Onkel Lu von seinem Stuhl und rückte die Bundfaltenhose zurecht. Sein Bauch wölbte sich darüber wie ein
Weitere Kostenlose Bücher