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Die Luecke im Gesetz

Die Luecke im Gesetz

Titel: Die Luecke im Gesetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Lenssen
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die einen glauben machen wollen, dass sie ihr Leben im Griff haben. Von Anfang an hatte man allerdings im Gerichtssaal den Eindruck, dass ihm das weder der Richter noch der Staatsanwalt abkaufen würde. Letzterer machte überhaupt keinen Hehl daraus, dass er den Angeklagten zudem für einen Lügner hielt, denn Harry S. bestritt die Tat.
    Zum Beweis seiner Unschuld hatte der Angeklagte seine Freundin als Zeugin vorladen lassen. Als die junge Dame den Gerichtssaal betrat, schauten alle auf. Die Zeugin war eine äußerst gut aussehende, klassische, 1,75 Meter große Blondine mit perfekter Frisur und fast zu kurzem Rock. Die Haare zum Pagenkopf geschnitten, setzte sie sich in den Zeugenstuhl, schob ihre Sonnenbrille ins Haar und verschränkte lässig die Arme. Sie sagte dann aus, dass ihr Freund nicht gefahren sei. Sie hätte die ganze Zeit neben ihm gesessen. Der Motor sei nicht ein einziges Mal angelassen worden.
    Der Staatsanwalt fühlte sich auf den Arm genommen und wies darauf hin, dass der Pkw ihres Freundes in einer Schlange von mehreren Wagen gestanden hätte, die darauf warteten, mit der Fähre übergesetzt zu werden. Irgendwie müsse der Wagen ja da hingekommen sein. Die Zeugin konnte den Wagen nicht gefahren haben, denn nach Aktenlage hatte sie keinen Führerschein.
    Da die junge Zeugin von Anfang an gemerkt hatte, dass der Staatsanwalt ihr kein Wort glaubte, schenkte sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Richter. Sie nahm sorgsam ihre Brille aus dem Haar und führte langsam den rechten Bügel der Brille an ihre Lippen. Die öffnete sie dann und begann mit der Zunge sehr deutlich mit dem Brillenbügel zu spielen, den sie dabei immer tiefer in ihren Mund gleiten ließ, während sie den Richter mit leicht gesenktem Kopf von unten anschaute.
    Bei dem hatte dies tatsächlich Wirkung. Er wurde immer nervöser, rutschte auf seinem Stuhl hin und her und erklärte auf einmal, dass die Verhandlung kurz unterbrochen werde. Er gab mir zu verstehen, dass ich mit ins Beratungszimmer kommen solle. Im Beratungszimmer angekommen, sagte er sichtlich irritiert und völlig außer sich: »Herr Referendar, dem Nüttchen glaub ich kein Wort.«
    Der gewollte Beeinflussungsversuch der blonden Zeugin blieb nicht ohne Folgen. Sie erhielt in einem späteren Verfahren eine neunmonatige Freiheitsstrafe wegen uneidlicher Falschaussage.
    Merke: Auch wenn es vorkommen soll, dass manche Zeugen es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen: Als Zeuge vor Gericht sind Sie verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Tun Sie das nicht, müssen Sie mit einer Haftstrafe rechnen.
2. Das Gewissen des Zeugen
    Der Zeuge Herbert S. sagte mir vor dem Prozess nicht, was er gesehen hatte. Er fragte mich allerdings, welche Strafe ihn erwarte, wenn er lügen würde. Ich antwortete ihm Folgendes: Wenn ein Zeuge im Gerichtssaal wissentlich falsch aussagt und er nicht vereidigt wird, muss er mit einer Freiheitsstrafe ab einem halben Jahr rechnen; wird er vereidigt, das heißt, hat er geschworen, dass er die Wahrheit sagt, beträgt die Freiheitsstrafe mindestens ein Jahr.
    Da Herbert S. kein Verwandter des Angeklagten war, sondern nur ein sehr guter Freund, hatte er kein Zeugnisverweigerungsrecht. Er musste also aussagen. Und das tat Herbert S. Er erzählte, wo er am Tatabend gewesen sei, mehr sagte er aber nicht aus. Herbert S. erklärte dem Gericht, dass er sich nicht erinnern könne. Keine Frage des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft vermochte die Erinnerungen von Herbert S. wieder herbeizuführen. Doch sowohl das Gericht als auch der Staatsanwalt und ich waren davon überzeugt, dass er mehr wusste, als er zugab.
    So machte Herbert S. eine Aussage, die offensichtlich falsch war, und wurde deshalb dennoch nicht angeklagt.
    Tatsächlich habe ich es in meiner gesamten Anwaltslaufbahn nicht ein einziges Mal erlebt, dass ein Zeuge verurteilt wurde, weil er sich nicht erinnern konnte.
    Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, was man von Zeugen in Gerichtsverfahren erwarten kann. Können Sie sich erinnern, was vor einem halben Jahr an einem bestimmten Sonntagvormittag passiert ist? Wissen Sie noch, wo Sie am 16.9. vergangenen Jahres waren?
    Ich wundere mich immer wieder darüber, über welches Erinnerungsvermögen manche Menschen verfügen, die über Vorgänge berichten, die teilweise Jahre zurückliegen. Denn Gerichtsverfahren können bekanntlich Jahre dauern oder beginnen erst nach mehreren Jahren. Denken Sie an die Mordverfahren, bei denen die Täter manchmal erst nach

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