Die Lüge
es sich leben! Es war eine fremde und doch traumhaft vertraute Welt. Sie hatte tausendmal davon gelesen, mit Dienstmädchen oder bettelarmen Grafentöchtern gelitten, auf Erlösung gehofft und nicht geglaubt, dass es so etwas tatsächlich gab – jedenfalls nicht für eine ganz gewöhnliche Bankkauffrau. Ein paar Minuten später stieg sie wieder hinaufbis in den ersten Stock. Sechs geschlossene Türen vermittelten den Eindruck von unerlaubtem Eindringen. Doch schon hinter der ersten lag ein Zimmer, in dem sie sich auf Anhieb wohl fühlte. Alles, was sie im Wohnraum vermisst hatte, war hier zu finden. Eine urig bequeme Couch mit drei Dutzend wahllos verteilten Kissen. Sie sah entschieden benutzter und keinesfalls so steril aus wie die Sitzmöbel unten. Neben der Couch stand ein Schrank mit zwei Schubfächern und zwei Türen, hinter denen sich ein Stapel Gästehandtücher und zwei Flaschen verbargen. Massageöl las sie und dachte an einen verspannten Nacken. Für einen anderen Gedanken war sie schon zu lange allein. An der Wand gegenüber der Couch standen ein richtiger Fernseher, ein Videorecorder, ein Satellitenempfänger und eine Stereoanlage.
Hinter der zweiten Tür lag ein Bad. Auf dem Wannenrand stand ein Flakon mit rosafarbenen Kugeln, die sie eine Sekunde lang für Bonbons hielt – wirklich nur eine Sekunde lang. Dann roch sie, dass es sich um einen Badezusatz handelte. Sie benutzte die Toilette und suchte eine Weile nach der Spülung, ehe sie die Platte auf der Wand hinter dem Klo entdeckte, die sich kaum von den sie umgebenden Fliesen unterschied. Für einen Moment musste sie grinsen.
Hinter der dritten Tür befand sich das Schlafzimmer. Jedenfalls dachte sie, es sei das Schlafzimmer. Dass es sich um ein Gästezimmer handeln musste, erkannte sie erst, als sie nebenan dieselbe Einrichtung entdeckte. Das Schlafzimmer lag hinter der fünften Tür. Edel, teuer, geschmackvoll, reinweiß mit ein bisschen Glas und Messing aufgelockert. Die Fürstensuite, anders konnte man es nicht bezeichnen. Einen Kleiderschrank gab es nicht, stattdessen ein Ankleidezimmer mit großen Spiegeln, Fächern voller Wäsche und Kleidung, nicht nur geschäftsmäßige, es hingen auch etliche Abendroben auf den Bügeln.
Eine weitere Tür führte vom Schlafzimmer aus in ein riesiges Bad. Genau genommen waren es zwei Bäder. Die Duschkabine war ein abgeschlossener Raum für sich und entschieden größer als die Ecke, die in ihrem Mietvertrag als Duschbad bezeichnet wurde. Zur kreisrunden Wanne führten einige Stufen hinauf. Es roch nach Nadias Parfüm und edlen Badezusätzen. Mit trockener Kehle bewunderte sie die beiden von Spiegelschränken gesäumten Waschtische und eine Ansammlung von Herrenpflegemitteln auf einem offenen Bodenregal aus weißem Korbgeflecht. Die unvermeidliche Überwachungseinheit war neben der Tür angebracht und von der Wanne aus gut zu sehen. Den winzigen Monitor entdecken und beschließen, sie habe sich hinlänglich vertraut mit allem gemacht, war eins. Sie wollte nur noch einen Blick hinter die letzte Tür werfen und dann verschwinden. Doch es kam anders.
Hinter der sechsten Tür lag Michael Trenklers Arbeitszimmer, dachte sie jedenfalls. Einen Spion gab es hier nicht. Auf dem Schreibtisch tummelten sich Monitor, Tastatur, Maus, Telefon, Anrufbeantworter, ein kleiner Kopierer und ein Flachbettscanner. Schriftstücke lagen keine herum, dafür wäre auch kein Platz gewesen. Neben dem Schreibtisch stand ein Rollcontainer, darauf ein hypermoderner Laserdrucker. Unter dem Tisch stand der Computer. Ein grünes Lämpchen glühte. Michael hatte wohl noch gearbeitet und vergessen, seinen Rechner auszuschalten.
Die Wände ringsum waren mit offenen Regalen gesäumt, die von Büchern überquollen. In der Hauptsache handelte es sich um Fachliteratur; Biologie, Chemie, Biochemie, Pharmazie und Medizin, einige in Deutsch, die meisten in Englisch. Dazwischen entdeckte sie auch mehrere Handbücher für diverse Computerprogramme. Und eines davon gehörte zu der Textverarbeitung, an der sie im Versicherungsbüro gescheitert war. Sie blätterte darin, bis irgendwo etwas klapperte.
Hastig stellte sie das Buch zurück und horchte angestrengt. Es war ein leises, metallisches Geräusch gewesen, dem ein ebenfalls leiser, doch gut zu verstehender Fluch folgte. Eine Männerstimme. Michael musste zurückgekommen sein, vielleicht war ihm eingefallen, dass sein Computer noch in Betrieb war. Auf Zehenspitzen näherte sie sich der Tür und
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