Die Lüge
wie irgendein Fenster.
Vor ihren Augen flimmerte die Versicherungspolice. In ihrem Hinterkopf wisperte Michael Trenkler etwas von einem Dukatenesel und einem Goldregen, den er nicht brauchte. Sie hatte genug Kriminalfilme gesehen, um sich zu fragen, was Nadia tatsächlich brauchte, eine Vertretung als schmollende Ehefrau oder eine passende Leiche? War es deshalb völlig bedeutungslos, wie ihre Stimme klang?
Es dauerte etliche Minuten, ehe ihr das metallische Klicken wieder einfiel. Sie glaubte zu wissen, welchen Fehler sie gemacht hatte. Die Alarmanlage konnte nicht in Betrieb gewesen sein. Sie musste sie ein- statt ausgeschaltet haben, versuchte ihr Glück an dem schwarzen Kästchen unter der Lederjacke. Aber Nadia hatte ihr nur eine Zahlenkombination genannt, und mit der rührte sich nichts.
Nun wollte die Panik endgültig die Regie übernehmen. Siemusste sich mit Gewalt zur Ordnung rufen. Es musste eine Möglichkeit geben, aus dieser Bude rauszukommen. Sie kehrte zurück in die Garage und untersuchte den Kasten auf der Wand neben dem Tor. Von außen bot er keine Angriffsfläche, nur einige versenkte Schrauben. Einen Werkraum, in dem die Suche nach einem Schraubendreher gelohnt hätte, hatte sie bei ihrem Rundgang nicht entdeckt. Doch zur Not tat es auch ein Küchenmesser.
Die Schrauben im Kästchen saßen ziemlich fest, gaben aber schließlich nach. Sie zog die Abdeckung herunter und sah sich einem Gewirr von Platinen und dünnen Kabeln gegenüber, die sämtlich in das dicke Kabel mündeten, das zum Motor führte. An einen Stromschlag dachte sie nicht, besorgte sich in der Küche noch ein Messer, diesmal eins mit dünner, spitzer Klinge, und machte sich daran, die winzigen Schrauben in den Kabelverbindungen zu lösen.
Zweimal rutschte sie ab und schnitt sich in die Finger. Blut verschmierte Kasten, Kabel und Messergriff. Nach zehn Minuten ließ sich der dicke Kabelstrang lösen. Sie trat zur Seite, fasste mit beiden Händen an die untere Torkante, verschmierte auch sie mit ihrem Blut – und sah das Schlüsselloch dicht über dem Boden, zu beiden Seiten daneben waren Griffmulden eingelassen.
Der Schlüssel mit der roten Markierung passte. Schwankend zwischen grenzenloser Erleichterung und entsetzlicher Scham drehte sie ihn um und hörte im Boden etwas klicken. Das Tor schwang von selbst ein Stück in die Höhe. Und so wäre höchstwahrscheinlich auch die Haustür aufgegangen. Durch den größer werdenden Spalt lugte sie zu Wolfgang Blastings Einfahrt hinüber. Das Herrenrad stand noch da, er war nicht zu sehen.
Sekunden später hatte sie das Garagentor vollends hochgeschoben, einen Blick auf die Automatikschaltung des Jaguarsgeworfen und sich eingeredet, damit käme sie zurecht. Das Gewirr von Schaltern auf einer Konsole zwischen den beiden Vordersitzen hätte einem ängstlichen Menschen den Mut nehmen können. Etwas, um den Fahrersitz auf ihre Größe zu verstellen, fand sie nicht. Die Pedale erreichte sie gerade mit den Zehenspitzen, die Spiegel auszurichten, vergaß sie in der Eile.
Der Jaguar schoss mit dem ersten Druck aufs Gas in einem mächtigen Satz nach vorne. Sie trat auf die Bremse und ließ ihn langsam ins Freie rollen. Vor der Garage hielt sie, stieg noch einmal aus, hievte das schwere Tor nach unten und verschloss es. Als sie erneut einsteigen wollte, trat Wolfgang Blasting aus seiner Haustür und erkundigte sich: «Was ist mit dem Schalter?»
«Keine Zeit», sagte sie knapp und stieg wieder ins Auto.
In der offenen Haustür erschien Ilona Blasting und unterstützte vehement die Forderung ihres Gatten. «Nun mach schon! Wenn du fünf Minuten vom ersten Akt verpasst, geht die Welt nicht unter. Ich habe keine Lust, den ganzen Abend im Dunkeln zu sitzen.»
Sie kombinierte, dass es sich um einen Lichtschalter handeln müsse, erinnerte sich an Nadias Informationen über die Parteizugehörigkeit von Frau Blasting und riet: «Mach doch eine Kerze an, das ist romantisch und schont die Umwelt.»
Die Verblüffung der Frau nutzend, löste sie die Handbremse, legte den Gurt um und gab Gas. Ihre Finger bluteten immer noch, die beiden Schnitte gingen tief ins Fleisch. Inzwischen hatte sie Spuren am Lenkrad, der Handbremse und dem Türgriff hinterlassen. Auch der sandfarbene Rock war verschmiert. Auf der mit jungen Bäumen bestandenen Landstraße hielt sie noch einmal an, suchte nach dem Erste-Hilfe-Kasten, fand ihn unter dem Fahrersitz und wickelte Mull um ihre Finger. Dann fuhr sie weiter, langsam und
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