Die Lüge
Zwei Straßen von Susannes Wohnung entfernt hielt Nadia an und gab ihr ein neues Handy samt Netzteil, damit sie im Notfall telefonisch erreichbar wäre. «Wenn alles bleibt wie besprochen, treffen wir uns nächsten Freitag um vier im Parkhaus. Wenn sich etwas ändert, sage ich dir Bescheid, damit du nicht unnötig warten musst.»
Kaum hatte sie ihre Wohnung betreten, klingelte das Handy zum ersten Mal. Nadia hatte vergessen, ihr den PI N-Code zu nennen, mit dem das Handy nach dem Ausschalten wieder in Betrieb genommen wurde. Sie nannte vier Zahlen und wünschte Susanne eine gute Nacht. Eine schlechte Nacht wurde es nicht. Mit Nadias Erläuterungen im Hinterkopf träumte sie sich in mehreren Etappen durch deren Leben.
Freitags legte sie sich noch einmal auf die Sonnenbank. Samstags regnete es. Sie kaufte keine Zeitung, studierte statt Stellenangeboten Nadias Aufzeichnungen und lernte alles auswendig. Bei zweitausend Euro im Monat war die Arbeitssuche nicht mehr so dringend. Völlig vernachlässigen wollte sie das natürlich nicht. Sobald sie etwas Routine bei ihrenVertretungseinsätzen gewonnen hatte, wollte sie sich wieder intensiv um eine Stelle bemühen. Den Gedanken, Nadia in dieser Hinsicht um Hilfe zu bitten, gab sie auf. Wenn Nadia nur aus Gefälligkeit für einen Bekannten tätig war, konnte sie kaum Jobs vermitteln.
Den Sonntagnachmittag verbrachte sie mit ihrer Mutter und fragte diese nach ihren alten Schulbüchern, wobei es ihr in erster Linie um die Notenhefte ging. Anders als erwartet hatte Agnes Runge die nicht aufgehoben. «Ich musste doch aussortieren, hier ist ja nicht viel Platz. Wozu brauchst du denn Notenhefte, Susanne?»
«Herr Heller will sein Klavier verkaufen», sagte sie. «Und ich dachte … Aber es ist nicht so wichtig. Es würde wohl ohnehin zu eng in meiner Wohnung, wenn ich ein Klavier aufstelle.»
«Meinst du denn, du kannst dir bald eine größere leisten?», fragte Agnes Runge und erkundigte sich misstrauisch, was es mit den Kurierfahrten auf sich habe. Johannes Herzog hatte seiner Großmutter davon erzählt und offenbar Zweifel an der Seriosität dieses Nebenverdienstes geäußert. Frau Herzog hatte es brühwarm an Agnes Runge weitergegeben. Nun war ihre Mutter ein wenig besorgt, ließ sich jedoch schnell beschwichtigen.
Am späten Montagnachmittag rief Nadia erneut auf dem Handy an, bestellte sie zwei Straßen weiter, überreichte ihr zwei Tüten mit neuer Kleidung für kühle Tage und eine Handtasche – dem Zwilling ihrer Tasche mit identischem Inhalt. Zeit für eine Spazierfahrt hatte Nadia nicht, berichtete nur, was beim letzten Treffen nicht gesagt worden war, aber unbedingt erzählt werden musste, damit sie auf dem neuesten Stand blieb.
Jo hatte den Mechanismus am Garagentor natürlich wieder instand gesetzt. Es war nicht leicht gewesen, ihn zu überzeugen,dass die Alarmanlage verrückt gespielt und die Verriegelung erst auf den Schlüssel angesprochen hatte, als sämtliche Kabel gelöst waren. Zweimal hatte der gute Jo seine Konstruktion inzwischen durchgecheckt und an seinen Fähigkeiten gezweifelt. Ilona war bis auf die Knochen beleidigt gewesen, hatte sich vorgestern noch hartnäckig geweigert, Auskunft zu geben, ob sie den Schalter noch brauchten. Schnippisch hatte Ilona erklärt, Wolfgang säße jetzt abends immer romantisch bei Kerzenschein und schone die Umwelt. Nadia amüsierte sich darüber und meinte, das sei die Lösung sämtlicher Probleme, die Wolfgang schaffen könne. Wenn Susanne seine Frau verärgere, dürfe er nicht mit der Nachbarin sprechen. Der stahlharte Krieger im Kampf um Recht und Ordnung stünde tüchtig unter dem Pantoffel.
Um Wolfgang Blasting machte Susanne sich keine Sorgen. Über Michael hätte sie entschieden mehr wissen müssen, fand sie. Doch Nadia erklärte abschließend nur, mit Michael habe es keine Probleme gegeben. Dann war Nadia wieder fort, und ihr fiel ein, dass sie schon zum zweiten Mal vergessen hatte, von Hellers Erkenntnis zu berichten. Aber das schien auch nicht so wichtig. Es war kaum anzunehmen, dass Heller einmal mit Michael Trenkler zusammentraf und ihm erzählen konnte, seine Frau gäbe es in doppelter Ausführung. Und was sollte ein vorbestrafter Alkoholiker sonst mit seinem Wissen anfangen?
Mittwochs klingelte das Handy zum dritten Mal. Nadia klang ein wenig aufgeregt. Es war leider etwas dazwischengekommen. Ihr Liebhaber konnte sich das Wochenende nicht freinehmen. Die Schwiegermutter hatte ihren Besuch
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