Die Lüge
von sich aus nach dem Befinden der Tochter zu fragen. Von dieser Seite seien keine Überraschungen zu befürchten.
Michaels Eltern lebten in München, kamen jedoch ursprünglichaus Köln. Michaels Bruder Paul hatte es vor zehn Jahren aus beruflichen Gründen nach Bayern verschlagen. Die Eltern hatten sich ihm angeschlossen. Paul war verheiratet mit Sophie. Beide hatten einen Sohn, den nun achtzehnjährigen Ralph. Auch damit hätte Susanne nie zu tun, es könnte höchstens geschehen, dass jemand anrief. Aber der Anrufbeantworter war immer eingeschaltet und nahm alle eingehenden Gespräche entgegen.
Zuletzt gesehen hatte Nadia Michaels Familie kurz nach ihrer Hochzeit. Bei der Trauung hatten sie auf Angehörige verzichtet. Michael zuliebe hatte sie dann eine nachträgliche Feier ausgerichtet, Hotelzimmer für die Verwandtschaft gemietet, weil sie zu der Zeit noch kein Haus mit Gästezimmern hatten. Das Ergebnis war eine Katastrophe gewesen. Ralph hatte nichts als Unfug veranstaltet und war von der Großmutter ständig in Schutz genommen worden. Daraufhin hatte sich Nadia entschlossen, die familiären Bande nicht über Gebühr zu strapazieren und von gegenseitigen Besuchen Abstand zu nehmen. Wie sie war inzwischen auch Michael der Ansicht, dass zu viel Familie sich nicht mit dem persönlichen Frieden vereinbaren ließ.
«Besucht er seine Eltern nie?», erkundigte sich Susanne ungläubig.
«Selten», sagte Nadia und hakte weitere Punkte ab. Der einmal erwähnte Segelurlaub war ganz nett gewesen. Wider Erwarten besaß Nadia keine eigene Yacht. Der von Michael erwähnte Kemmerling hatte ihnen sein Boot zur Verfügung gestellt. Besondere Ereignisse hatte es nicht gegeben. Viel Wasser, viel Langeweile, aber insgesamt erholsam.
Der Ring mit dem auffälligen blauen Stein war ein Geschenk von Michael zum fünften Hochzeitstag und durfte nie abgelegt werden. Dieser Ring war sozusagen das zweite Siegel unter dem Bund ihrer Ehe. Susanne schloss aus dieserBemerkung, dass es vor zwei Jahren zur großen Krise in Nadias Ehe gekommen war. Darüber gab Nadia nur wenig preis, es klang verbittert.
«Als ich ihn kennen lernte, besaß er drei Paar Socken und teilte sich eine schimmelige Bude mit einem Physikstudenten. Er jobbte und hätte wahrscheinlich noch etliche Jahre gebraucht, um auch nur sein Diplom zu machen. Jetzt hat er zwei Doktortitel, und wie er lebt, hast du ja gesehen. Da steckt man es nicht so leicht weg, wenn er plötzlich meint, er könnte etwas versäumt haben.»
Nadia schaute mit starrem Blick den Waldweg entlang. Nach ein paar Sekunden entspannte sich ihre Miene wieder. Sie gab weitere Anekdoten zum Besten, die Michael manchmal mit dem üblichen «Weißt du noch?» zur Sprache brachte. Ansonsten wurde im Hause Trenkler offenbar nicht viel gesprochen, selten über Michaels Beruf, über Nadias Tätigkeit praktisch nie, weil Michael es nicht gerne sah, dass sie überhaupt arbeitete. Wie schon einmal gesagt, er war von der alten Sorte und der Meinung, wenn der Mann genug verdiene, könne die Frau daheim bleiben.
Obwohl sie auch mit Nadias beruflicher Seite nie zu tun bekäme, erklärte Nadia noch, dass nach Michaels Treubruch, ihrer Verzweiflung und einigen Alkoholexzessen zu ihrem Glück ein früherer Bekannter aufgetaucht sei, der sich gerade als Finanzmakler selbständig gemacht hatte. Versicherungen, Baufinanzierung, kurzfristige Kredite für kleine oder mittelständische Unternehmen und dergleichen, auch ein bisschen Anlageberatung. Er konnte sich noch keine fest Angestellten leisten. Aus Gefälligkeit und um sich von den privaten Problemen abzulenken, half Nadia ihm. Seitdem leistete sie sich drei- oder viermal in der Woche die Illusion, eine unabhängige Frau zu sein. Finanziell darauf angewiesen war sie bei Michaels Einkommen nicht.
Die Informationen ergaben insgesamt ein harmonisches Bild. Susannes Fragen waren zufrieden stellend beantwortet. Als sie wieder beim Auto ankamen, nahm Nadia ein Bündel Papier von der Rückbank. Sie hatte ebenfalls eine Liste gemacht. Jeder Sicherungshebel, jeder Bewegungsmelder, jeder Wärmesensor, jeder Monitor, jeder Schließmechanismus, jedes Wenn-Dann war aufgeführt. «Meinst du, du kommst damit zurecht?»
«Ich denke, schon», sagte sie und erklärte ihrerseits, dass sie ihre Mutter im Zweiwochenrhythmus besuchte und Nadia sich nach Möglichkeit mit ihren Ausflügen danach richten sollte.
«Kein Problem», sagte Nadia.
Kurz nach neun waren sie wieder in der Stadt.
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