Die Lüge
klang glaubwürdig in Erinnerung an den Aktenkoffer mit den Zahlenschlössern.
«Hilfst du mir?», bettelte Nadia.
«Nein», sagte sie und ging weiter auf das Haus zu.
Nadia trippelte nervös noch ein Stück neben und hinter ihr her. «Sei doch nicht so nachtragend, Susanne.» Erhöhte ihr Angebot auf zweitausend pro Tag und blieb erst zurück, als Heller sich aus dem Fenster beugte.
Die Szene wiederholte sich am nächsten Morgen. Als sie aus dem Haus kam, wartete Nadia bereits, lief neben ihr her, riss die Handtasche auf und zog einen prallen Umschlag heraus. «Das sind fünftausend, Susanne. Bitte, meine Maschine geht um elf.»
«Guten Flug», sagte sie und ging weiter.
«Wie viel willst du für die beiden Tage?»
«Ich will nur meine Ruhe.»
Erst als der Bus kam, zog Nadia sich zurück. Während der Fahrt fühlte sie sich sehr stark und erleichtert. Sie war überzeugt, es sei vorbei, dass ihr Leben von nun an klein und bescheiden, verdammt einsam, aber ehrlich und ohne Angst verliefe.
Die Arbeit in der Confiserie war anstrengend, aber nicht schwierig. An der Herzlichkeit, mit der man sie empfangen hatte, änderte sich nichts. Die notwendige Gesundheitsprüfung bestand sie. Zu den Standarduntersuchungen für eine Tätigkeit im Lebensmittelbereich gehörte auch eine Röntgenaufnahme der Lunge. Als die Röntgenassistentin ihr eine Bleischürze vorlegte mit dem Hinweis, das sei Pflicht bei einer Frau im gebärfähigen Alter, konnte sie noch lachen. «Bei mir müssen Sie das nicht so genau nehmen. Mein Zyklus hat schon auf Großmutter geschaltet. Da rührt sich oft monatelang nichts.»
Das Leben normalisierte sich tagsüber. Nur abends kam oft alles wieder hoch. Wenn sie die Wohnungstür hinter sich schloss, befiel sie so ein hohles Gefühl. Sie bereute es nicht, dass sie Nadia hatte abblitzen lassen. Im Gegenteil. Sie wusste genau, dass sie es nicht noch einmal geschafft hätte, sich von Michael lieben zu lassen und zu wissen, dass er Nadia meinte.
Die Erinnerung an die Nacht und den Nachmittag mit ihmwar immer noch so lebendig. Und die kleinen Leckereien, mit denen sie sich in den ersten beiden Monaten für die trostlosen Abende entschädigte, waren nur ein billiger Trost. Sie kaufte sich quer durchs Sortiment, verbrachte einen Abend mit Geleebananen, einen mit Mozartkugeln, den dritten mit Champagnertrüffeln. Ihre Zähne litten nicht darunter, die putzte sie nach wie vor ausdauernd und gründlich. Aber ihr Magen reagierte auf die Süßigkeiten häufig mit Übelkeit in den frühen Morgenstunden.
Anfangs kam ihr nicht der Gedanke, es könne andere Ursachen haben. Erst als sie sich Anfang November tagelang von Tee und trockenem Toast ernährte, sich dennoch regelmäßig übergeben musste und zusätzlich ein unangenehmes Spannen in den Brüsten spürte, stieg dieser ungeheuerliche Verdacht auf. Sie kaufte einen Test in einer Apotheke. Das Ergebnis war eindeutig.
In der Nacht weinte sie sich in den Schlaf. Es war so grausam. Da wuchs etwas in ihr, das vielleicht ein wenig Licht in ihre Tage gebracht hätte. Ein Mensch, der bis an ihr Ende zu ihr gehört und allem einen Sinn gegeben hätte. Und sie durfte diesem Menschen keine Chance geben, wo sie gerade dabei war, wieder Fuß zu fassen. Natürlich hätte die Möglichkeit bestanden, sich nun an Michael zu wenden, ihre Beweise für den Aufenthalt im Haus zu präsentieren, ein Geständnis abzulegen und Unterhalt für das Kind zu verlangen. Aber ob er auch für sie zahlen würde, damit sie leben und Miete zahlen könnte? Vielleicht, mit sehr viel Glück ein paar Jahre lang, danach wäre sie dann endgültig zu alt, um noch irgendeinen Job zu finden.
Tagelang war sie wie gelähmt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen und eine Entscheidung zu treffen. Frau Schädlich beobachtete sie mit zunehmendem Misstrauen, weil ihr oft noch übel war, wenn sie morgens ins Geschäft kam. Amletzten Mittwoch im November sprach Frau Schädlich sie um zehn auf ihre Frühstückspause an.
«Wenn Sie nichts dagegen haben», sagte sie, «nutze ich die Zeit lieber für einen kleinen Spaziergang. Ich habe mir gründlich den Magen verdorben. Die frische Luft tut mir sicher gut.»
Frau Schädlich erhob keine Einwände und meinte, sie könne auf dem Weg Wechselgeld besorgen. Sie holte nur ihre Handtasche und den Blazer aus dem Aufenthaltsraum. Draußen war es sonnig und nicht mehr so kalt wie morgens, sodass sie auf ihren schäbigen Trenchcoat verzichten konnte. Eine Filiale der
Weitere Kostenlose Bücher