Die Lüge
sie näher kamen, und schaute ihnen erwartungsvoll entgegen. Sie riss erfolglos an ihrem Arm und keuchte: «Wenn Sie mich nicht sofort loslassen, schreie ich.»
Der Dunkelhaarige lachte kurz und meinte in gelangweiltem Ton: «Wenn Sie sich noch ein wenig gedulden wollen – dazu bekommen Sie gleich ausreichend Gelegenheit.» Dann nickte er dem Gedrungenen zu, der öffnete eine Tür am Wagenfond. Sie fühlte sich vorwärts geschoben. Der Griff um ihren Arm lockerte sich, stattdessen spürte sie eine Hand im Rücken. Es war fast so wie beim zweiten Banküberfall.
Und wie oft hatte sie sich ausgemalt, was sie alles hätte tun können, um dem Schädelbruch zu entgehen. Schlagen, treten, beißen, aber nicht sich abführen lassen wie ein Schaf zur Schlachtbank. Zum Schlagen und Treten fehlte ihr der Spielraum. Sie stieß nur den Ellbogen zurück und traf den Dunkelhaarigen in den Magen. Er ließ sie los, eher verblüfft als ernsthaft beeinträchtigt. Auch sein Begleiter schien mit solch einer Reaktion nicht gerechnet zu haben. Zwar griff er noch unter seine Lederjacke, aber was er dort suchte, sah sie nicht mehr.
Sie hetzte vorwärts, bis ihr die Seiten stachen. Frau Schädlich schluckte die Entschuldigung, ihr sei in der Bank plötzlich übel geworden, mit einem nachdenklichen Blick und schickte Frau Meul, das Wechselgeld zu holen. Dann bat Frau Schädlich sie zu einem Gespräch unter vier Augen ins Büro. «Es wär mir lieb», meinte sie dort, «wenn Sie mal zum Arzt gehen mit Ihrem Magen. Machen Sie’s gleich am Montag, wenn Sie Ihren freien Tag haben. Dann wissen wir am Dienstag, woran wir sind.»
Sie nickte nur, ging zurück in den Laden und ließ die Straße nicht aus den Augen. Zweimal innerhalb der nächsten Stunde sah sie durch die großen Schaufenster den Wagen mit den getönten Scheiben vorbeifahren. Frau Lasko hatte er sie genannt!
Nun blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Nadia anzurufen, doch aus dem Büro der Filialleiterin wagte sie das nicht. Frau Schädlich war ständig in der Nähe. Kurz vor Ladenschluss knickte sie gekonnt mit dem linken Fuß um und nahm dankbar Frau Meuls Angebot an, sie mit dem Auto zum Bahnhof zu bringen, damit sie von dort aus ein Taxi nehmen und in ein Krankenhaus fahren konnte, um den Fuß röntgen zu lassen. Ihrem Fuß ging es hervorragend. Aber bis zur Bushaltestellegab es etliche dunkle Ecken, an denen man eine Frau unbemerkt in ein Auto zerren konnte. Was, wenn die immer noch da draußen lauerten? Wenn sie die Confiserie nicht durch die Vordertür verließ, schien das Risiko geringer, entdeckt und doch noch geschnappt zu werden. Frau Meuls Auto stand auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Gebäude.
Aus einer Telefonzelle am Bahnhof versuchte sie zuerst, Nadia unter der ihr bekannten Nummer auf dem Handy zu erreichen. Doch der Anschluss existierte nicht mehr. An das zweite Handy, das Nadia ihr für ein paar Tage überlassen hatte, dachte sie nicht, rief in der Villa an. Es kümmerte sie nicht, ob Michael das Gespräch entgegennahm. Zweimal ertönte das Freizeichen, dann wurde abgehoben. Nadia war am Apparat.
«Ich bin’s», erklärte sie knapp. «Ich muss dich sofort sehen – in einer Stunde am Hauptbahnhof. Dein Flughafenkunde hat mich heute angesprochen. Mit meinem Namen! Er will sein Geld zurück, die kompletten zweihunderttausend. Wenn du nicht kommst, gehe ich zur Polizei.» Ehe Nadia etwas erwidern konnte, hängte sie ein. Dann wartete sie – bis kurz vor elf. Mit jeder Viertelstunde, die verging, wurde sie nervöser. Die Menschenmenge wurde dünner, die düsteren Gestalten zahlreicher. Nadia kam nicht.
Schließlich humpelte sie demonstrativ zum Taxistand, ließ sich in die Kettlerstraße bringen und bat den Fahrer, ihr die Treppen hinaufzuhelfen. Für ein großzügiges Trinkgeld erfüllte er ihr den Wunsch. Nachdem die Wohnungstür verschlossen und die Sperrkette vorgelegt war, machte sie sich ein spätes Abendbrot. Als sie um halb eins zu Bett ging, war sie hellwach und hörte drei Dutzend nicht vorhandene Geräusche im Treppenhaus. Und als früh um sechs der Wecker klingelte, dröhnte ihr Schädel unter der verheerenden Erkenntnis, dass Nadia in ihrem Namen irgendwelche Geschäfte gemacht hatte.
Donnerstags verließ sie um halb acht ihre Wohnung, fest entschlossen, sich in der Mittagspause von Frau Meul zur Polizei fahren zu lassen. Der Umschlag mit ihren dürftigen Beweisen steckte in der großen Tasche, die sie immer mit zur Arbeit nahm. Während
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