Die Lüge
könnte. Aber ich habe abgelehnt.»
«Ich glaube kaum, dass Helga etwas missverstanden hat», meinte er. «Du könntest ihr nur endlich mal eine bessere Ausrede bieten. Genf hängt mir zum Hals raus. Fassen wir doch mal kurz zusammen. Am achtzehnten September bekam deine Mutter einen Herzinfarkt. Philipp war so freundlich, mich zu informieren, weil du natürlich sofort aufgebrochen bist und nicht die Zeit hattest, mich persönlich in Kenntnis zu setzen. Wie sich dann herausstellte, ging es deiner Mutter prächtig. Du hättest einkalkulieren sollen, dass ich sie anrufe.»
Trotz der scheußlichen Situation erleichterte es sie, aus seinem Mund eine Bestätigung für Nadias Erklärung zu hören. Ganz allmählich kam die Küche wieder zum Stillstand. Als sieschwieg, zählte er weitere Ausreden auf, die Nadia ihm für ihre Ausflüge mit Philipp Hardenberg geboten haben musste. Immer Besuche in Genf bei den Eltern, mal die Mutter vorgeschoben, mal den Vater, als ob Nadias Eltern getrennt lebten. Michael schloss mit den Worten: «Fällt dir was auf? Es passiert alle vierzehn Tage! Das nennt man Quartalssäufer! Helga hat wohl nicht damit gerechnet, dass du gestern Abend noch fahren konntest.»
Sie wagte es, die Arbeitsplatte loszulassen, allerdings nicht, sich nach den Scherben zu bücken. Wie auf Watte ging sie zur Tür und wollte an ihm vorbei in die Diele. Er griff nach ihrer Schulter und hielt sie fest. Die Furcht, er könne sie schlagen, war verflogen. «Lass mich los», verlangte sie. «Ich will ins Bett.»
«Du kannst ins Bett, wenn ich weiß, was los ist. Du hängst doch wieder an der Flasche! Bildest du dir ein, ich kriege es nicht mit, wenn du draußen säufst? Du musst mich wirklich für blöd halten. Warum, zum Teufel? Nur, weil ich nicht tanze, wie du pfeifst?»
«Michael, bitte, ich habe nicht getrunken. Ich hatte einen anstrengenden Tag. Und morgen muss ich auch früh raus.»
«Morgen ist Samstag», stellte er fest.
«Ja, aber Philipp hat mich gebeten …»
Der Name wirkte wie eine Peitsche. Er ließ sie los, drehte sich um und ging zur Treppe. Als sie wenig später ebenfalls nach oben stieg, waren sämtliche Türen geschlossen. Kein Laut war zu hören. Im Schlafzimmer war er nicht, auch nicht im Bad. Minutenlang suchte sie vergebens nach seinem Wecker, kontrollierte die beiden Gästezimmer und ging dann zur Tür des Fernsehzimmers. Er lag ausgestreckt auf der Couch, hatte einen Kopfhörer aufgesetzt und die Augen geschlossen. Sie berührte zaghaft seine Schulter. Er öffnete die Augen.
«Ich brauche den Wecker», sagte sie.
Er gestikulierte zu den Ohren, er habe kein Wort verstanden.
«Ich brauche den Wecker», wiederholte sie lauter und ein wenig wütend. Es war eine blöde Situation. Nadia wusste garantiert, wo der verfluchte Wecker stand. Wenn er nun stutzig wurde, wegen so einer Lappalie. Endlich zog er den linken Hörer vom Ohr, Rockmusik dröhnte. «Hast du was gesagt?», schrie er.
Sie schrie ebenfalls: «Ich kann den Wecker nicht finden!»
Er grinste. «Stell doch deine innere Uhr. Ich habe morgen frei und will nicht früh geweckt werden.»
Eine Klippe umschifft! Er hatte den Wecker anscheinend versteckt. Es erschien ihr eine hilflose, fast kindische Reaktion und dämpfte den Zorn auf der Stelle. Sie war ja auch nicht direkt wütend auf ihn. «Michael, bitte, ich muss um sechs aufstehen. Es ist wichtig für mich.»
«Für mich nicht», sagte er. «Ruf Philipp an, er soll dich wecken. Das macht er bestimmt.» Damit ließ er den Hörer zurück auf das Ohr gleiten und schloss wieder die Augen.
Zwei Sekunden stand sie noch neben ihm, schaute auf ihn hinunter mit einer Mischung aus Verständnis, Liebe und Frustration. Wenig später lag sie im Bett, zog die Decke bis zum Hals und fröstelte trotzdem. Um zwei stand sie auf, das Bett neben ihr war leer. Sie ging nach nebenan, um zu sehen, was er trieb.
Das Flurlicht fiel in einer breiten Bahn zur Couch und bot ihr einen friedlichen Anblick. Die Stereoanlage war abgeschaltet, der Kopfhörer lag am Boden. Er lag auf der Seite, mit dem Gesicht zur Tür, und schlief so fest, dass nicht einmal das Licht ihn störte. Leise zog sie die Tür wieder zu, schlich zurück zum Bett und wählte Nadias Handynummer. Und wieder erklärte die Frauenstimme: «Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.»
Bis halb sechs blieb sie am Samstagmorgen im Bett, ging dann müde und wie zerschlagen unter die Dusche, wählte aus Nadias Bestand frische
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