Die Lüge
Kleidung, nur den BH konnte sie nicht wechseln. Während der Kaffee durchlief, beseitigte sie Scherben und Pfütze und hörte seine Schritte auf der Treppe. Er tauchte in der Diele auf, kam langsam näher.
«Hab ich doch richtig gehört. Deine innere Uhr funktioniert also noch.» Er zeigte auf die Kaffeemaschine. «Ist für mich auch ein Schluck drin?»
«Bedien dich», sagte sie nur.
Er schlenderte zum Schrank, nahm eine Tasse heraus und füllte sie. «Wann, schätzt du, bist du wieder hier?»
Sie zuckte mit den Achseln.
«Na, komm», lockte er, «eine ungefähre Zeitangabe wirst du machen können. Heute Mittag, heute Abend, gegen Mitternacht. Ich frage nur, damit ich weiß, wie ich mir den Tag einteilen soll.»
«Ich weiß es wirklich nicht.»
«Schade», sagte er. «Aber dann könnte ich eigentlich übers Wochenende nach München fahren und das Proletariat beglücken. Was meinst du? Lohnt sich das, oder besteht die Aussicht, dass wir beide demnächst ein paar Fragen klären?»
«Das glaube ich kaum», sagte sie. «Und deine Eltern freuen sich bestimmt, dich wieder mal zu sehen. Grüß sie von mir. Bestell auch Paul, Sophie und Ralph einen schönen Gruß.»
«Ich werds’s ausrichten», versprach er. «Wir sehen uns dann am Montag oder Dienstag oder irgendwann im Lauf der nächsten Woche. Es eilt ja nicht.»
Wieder ein Abschied! Er fiel leichter als der vom Freitagmorgen. Wenige Minuten vor sieben betrat sie die Garage. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch überzeugt, dass Nadia in den nächsten Stunden in der Confiserie anriefe, um eine bestimmte Zeit für den Nachmittag zu nennen.
Das Telefon im Büro klingelte fünfmal im Laufe des Vormittags. Frau Schädlich nahm die Anrufe entgegen, plauderte privat oder geschäftlich, registrierte gegen Mittag ihre zunehmende Nervosität und bot einen Anruf im Seniorenwohnheim an. Sie bemühte sich, das Telefon für Frau Schädlichs aufmerksame Augen mit dem Körper zu verdecken, tippte Nadias Handynummer, nannte ihren Namen, erkundigte sich nach dem Befinden ihrer Mutter und übertönte damit den monotonen Spruch der höflichen Frauenstimme.
Ein heftiger Schwindelanfall zwang sie, sich zu setzen. Frau Schädlich beobachtete voller Anteilnahme, wie sie sich stockend bei einer Stimme vom Band bedankte. «Nun machen Sie sich mal nicht zu große Sorgen», tröstete sie und behauptete entgegen ihrer Ansicht vom Freitag, alte Leute seien zäh. Dann erinnerte sie mit ernster Miene an den Arztbesuch für den Montag.
Kurz nach Ladenschluss verließ sie zusammen mit ihren Kolleginnen die Confiserie. Der Alfa stand etwa zweihundert Meter entfernt zwischen anderen Fahrzeugen am Straßenrand. Dass Frau Gathmann sie einsteigen sah, kümmerte sie nicht. In der Kettlerstraße fand sie keinen Parkplatz. Sie fuhr um die Ecke, stellte den Wagen bei der Telefonzelle ab und lief zurück.
Ausnahmsweise hing Heller nicht im Fenster und tauchte auch nicht im Treppenhaus auf. Hinter seiner Tür war es still. Er war wohl in der Kneipe. Ein paar Kinder schienen seine Abwesenheit genutzt zu haben, um ihm einen Streich zu spielen. Auf seine Tür und das Schloss waren Abziehbildchen geklebt.
Sie sah es im Vorbeigehen, aber genau schaute sie nicht hin, war mit ihren Gedanken bei Nadia und wartete bis zum frühen Abend auf das Taxi, aus dem Nadia steigen musste, umsich ihr Auto zurückzuholen. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie gründlich Hausputz hielt. Um halb sieben lag nirgendwo mehr ein Stäubchen, Fussel oder Haar. Sie wusste nicht, was sie noch tun könnte, ertrug die Warterei nicht länger, nahm Jacke und Handtasche und verließ die Wohnung wieder, um Philipp Hardenberg anzurufen. Er musste wissen, warum Nadia aufgehalten wurde und wann sie zurückkam. Seine Privatnummer hoffte sie in einem der Telefonbücher zu finden. Die Hoffnung war leider vergebens. Zur Not hätte ihr Münzgeld jedoch auch für die Telefonauskunft gereicht. Doch in der Telefonzelle hing nur noch ein Stück Kabel.
Noch einmal zurück in ihre Wohnung zu gehen erschien ihr zwecklos. Im Haus gab es Telefon und Hardenbergs Privatnummer im Computer, sie hoffte jedenfalls, dass der Eintrag auf der Karteikarte, die sie im September so schnell weggeklickt hatte, sich aufs Private bezog. Wenn Michael tatsächlich nach München gefahren war, stand Nadias Rückkehr an diesem Wochenende nichts im Weg. Das Bewusstsein, wahrscheinlich in ein verlassenes Haus zu kommen, dämpfte die Nervosität ein wenig.
Als das
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