Die Lüge
Inzwischen waren Hose und Bluse zerknittert. «Zieh dich um und komm rüber.»
«Es geht wirklich nicht», sagte sie nachdrücklich. «Ich habe ein Problem mit dem Computer und muss dringend …»
«Papperlapapp», unterbrach Lilo erneut. «Jo wird sich morgen darum kümmern. Du vergisst jetzt einmal sämtliche Probleme, nimmst eine heiße Dusche, ziehst dir etwas Hübsches an und legst ein bisschen Rouge auf. Du bist wirklich sehr blass. Und dann machen wir uns einen netten Abend. Wir haben eine Überraschung für dich.» Ehe sie erneut widersprechen konnte, stakste Lilo auf ihren Pumps zurück zum Nachbargrundstück.
Sie schloss die Haustür, den nutzlosen Laptop nahm sie samt der Computertasche mit nach oben und stellte ihn achtlos auf dem Schreibtisch ab. Wenn Joachim Kogler sich um den großen Rechner kümmern sollte – ein Mann, der ein Haus in eine elektronische Falle verwandeln konnte, musste imstande sein, ein Passwort zu umgehen und eine Karteikarte mit einer Telefonnummer auf einen Monitor zu zaubern. Barlinkow, dachte sie, Henseler, Hannah und Djorsch. «Gib dir Mühe», hörte sie Nadia im Geist sagen. Natürlich!
Die Dusche holte ein paar Lebensgeister zurück. Die Müdigkeit im Gesicht ließ sich überschminken. Dann schaute sie sich die Auswahl der Abendroben im Ankleidezimmer an. Es gab ein paar dezente – wahrscheinlich für die Oper – und ein paar auffällige Stücke. Sie wählte ein Ensemble in Lindgrün, das ähnlich flatterte wie Lilos Hosenanzug. Gewappnet mit einem halben Dutzend frei erfundener, aber amüsanterEpisoden aus dem Leben einer freiberuflich tätigen Anlageberaterin verließ sie das Haus, in der Hand nur den Schlüsselbund.
Am Straßenrand parkten sieben Wagen. Das sah nicht nach viel aus. Wolfgang Blasting öffnete und sagte statt einer Begrüßung: «Hab schon gehört, dass Doc in München ist. Dass ihm die Strandhütte nicht gefallen hat, hat sich auch rumgesprochen. Er redet zu viel, wenn du mich fragst.» Als sie nicht antwortete, winkte er sie mit dem Kopf in die Diele. «Komm rein und lass deine Laune am Rest der Gesellschaft aus.»
Er ließ sie an sich vorbei in den hell erleuchteten Raum, an dessen Stirnwand eine Doppeltür weit offen stand. Mit dem ersten Blick durch diese Tür hätte sie am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht. In Koglers Wohnraum tummelte sich ein buntes Völkchen. Lilos lieber Besuch umfasste mindestens drei Dutzend Köpfe, von denen sie nur vier kannte.
Ein kleiner weißhaariger Mann löste sich aus der Menge, kam ihr mit ausgestreckten Händen und einem herzlichen Lächeln entgegen. Mit einem «Welch eine Freude!» zog er ihre Hände an seine Lippen und küsste beide. Er hatte einen slawischen Akzent. Barlinkow? Joachim Kogler erlöste sie, ehe es zu Peinlichkeiten kommen konnte.
Lilo hatte ihn bereits über das Computerproblem informiert. Nun drängte er auf Einzelheiten, wollte vor allem wissen, ob das Sicherungssystem in Mitleidenschaft gezogen sei oder ob Michael sich nur einen Scherz mit ihr erlaubt habe. Anschließend zerstörte er ihre Hoffnungen auf die Karteikarte mit Hardenbergs Telefonnummer. «Ich schau mir das gerne an. Aber wenn es tatsächlich Schwierigkeiten mit dem Kennwort gibt, wirst du einen Jumper setzen müssen.»
«Das habe ich mir schon gedacht», sagte sie.
Was sie sonst noch gedacht hatte, ging im Trubel unter. Ihre Befürchtungen angesichts der vielen Menschen erwiesen sichals unbegründet. In einem kleineren Kreis hätte es eher zu Komplikationen kommen können. In der Masse interessierte sich niemand für die bereitgelegten Episoden oder sonst etwas. Einige Grüppchen standen im Raum verteilt und plauderten über Kubismus oder Dalís Liebesleben. Die meisten Anwesenden hatten sich um einen Jüngling geschart, der von Julias Farbsymphonien schwärmte.
Sie drehte eine Runde durchs Zimmer, erwiderte hier und dort ein Lächeln oder ein Hallo, verzog sich an ein freies Plätzchen neben den Terrassentüren und schlief fast im Stehen ein.
Etwa zehn Minuten später näherte sich ihr ein Mittfünfziger im schwarz-grau gestreiften Seidenanzug und begann ein Gespräch über den inzwischen erreichten Wert des Beckmann. Ohne dass sie selbst etwas beitragen musste, erfuhr sie, dass sie den Beckmann im Haus nicht länger zu suchen brauchte. Er war erst im Frühjahr dieses Jahres gekauft worden und als Geschenk für einen lieben Menschen gedacht gewesen. Mon chéri Jacques erfreute sich nun daran. Nachdem das gesagt
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