Die Lüge
«Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.» Möglicherweise war Nadia ihrem Vorschlag gefolgt, hatte sich ein Taxi genommen und war längst daheim. Und wenn nicht? Wenn sie gesagt hatte, sie käme erst morgen? Bis dahin müsse sie im Haus bleiben und sich Mühe geben?
Zwangsläufig musste sie sich vergewissern, ob Nadia daheim war. Unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte, wenn Michael an den Apparat kam, wählte sie den Hausanschluss. Schon nach dem ersten Freizeichen wurde abgehoben. Und ehe sie etwas sagen konnte, schrie er in den Hörer: «Wenn du jetzt sagst, es tut dir Leid, ändere ich den Code.» Er schien gar nicht damit zu rechnen, dass jemand anderer am Apparat sein könne als Nadia, brüllte ohne Pause weiter: «Über eine Stunde habe ich gewartet.»
«Entschuldige», hauchte sie. «Ich bin aufgehalten worden.»
Seine Wut beschwichtigte sie damit nicht. «Was du nicht sagst! Und du hattest nicht zwei Minuten Zeit, mir Bescheid zu sagen?»
«Es war kein Telefon in der Nähe», erklärte sie. «Und mein Handy ist nicht in Ordnung. Hatte ich dir das nicht erzählt?»
«Nein.» Er klang etwas ruhiger, jedoch keineswegs besänftigt. «Über deinen heißen Draht haben wir heut früh nicht gesprochen, wenn ich mich recht entsinne. Ich war den ganzen Tag der Meinung, wir hätten uns um neun bei Demetros treffen wollen. Ich habe es sogar geschafft, pünktlich zu sein. Dann saß ich da! Wie ein Idiot habe ich mich gefühlt.»
Demetros! Es schien sich um ein Lokal zu handeln. Nach Schredder, dem Probanden, der sich von der MTA eine Ladung verpassen ließ, hatte sie angenommen, es ginge ums Labor.
«Ach, was soll’s», fuhr Michael fort. «Darin habe ich ja Übung. Es war schließlich nicht das erste Mal. Für mich war es allerdings das letzte Mal.» Es entstand eine winzige Pause, in der er einen tiefen Atemzug hören ließ. Dann erst erkundigte er sich: «Wo bist du überhaupt?»
«Auf dem Heimweg», sagte sie und hängte rasch ein.
Zur Besorgnis gab es keinen Grund. Vermutlich nahm Zurkeulen mehr Zeit in Anspruch, als Nadia eingeplant hatte. Es lag auf der Hand, dass er sich nach dem Verlust mit Joko-Elektronik diesmal ganz genau erklären ließ, in welche Firmen Nadia sein Geld investieren wollte, damit es nicht wieder ein Reinfall wurde. Ihre einzige Befürchtung während der Fahrt war, dass Michael ein längeres Streitgespräch begann und sie ihn mit der einzigen Antwort, die Nadia ihr zur Verfügung gestellt hatte, zur Weißglut trieb.
Er erwartete sie in der Diele, hatte wohl das Garagentor gehört und stand bereit, sie in Empfang zu nehmen. Kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, griff er nach ihrem Arm und riss sie an sich. Nur den Bruchteil einer Sekunde später lag sein Mund auf ihrem. Völlig überrascht öffnete sie die Lippen für ihn. Es war ein äußerst heftiger, fast schon brutaler Kuss. Er umklammerte ihren Nacken, damit sie nicht ausweichen konnte. Ebenso unvermittelt, wie er sie an sich gerissen hatte, stieß er sie zurück und sagte: «Dein Glück! Und nun wüsste ich gerne, wo du warst.»
Ihre Unterlippe schmerzte. Sie strich mit der Zungenspitze darüber und spürte eine Schwellung. Ein von Wolfgang Blasting durchgeführter Alkoholtest wäre bestimmt sanfter gewesen.
Michael ging zur Küche, blieb bei der Tür stehen und drehte sich zu ihr um. «Ich warte, Nadia. Wo warst du?»
«Ich hatte einen späten Termin.»
Er lehnte sich gegen den Türrahmen, grinste abfällig. «Und warum hast du die Barthel nicht aufs Telefon gehetzt, um mich zu informieren?»
«Daran habe ich nicht gedacht.»
«Ein Glück, dass ich daran gedacht habe.» Inzwischen erschien ihr sein Grinsen irgendwie böse. «Und jetzt darfst du dreimal raten, was die gute Helga mir erzählt hat.»
Seine Wut zerrte an ihren Nerven. Sie ging zögernd an ihm vorbei zum Kühlschrank, nahm die Wasserflasche und wagte es nicht, ihn anzuschauen. Er stand da wie ein zum Sprung bereites Raubtier, als könne er jeden Moment handgreiflich werden.
«Du wärst gestern Nachmittag nach Genf geflogen», sagte er. «Und hättest eigentlich heute zurückkommen wollen.»
Der Küchenboden schwankte plötzlich. Die Wasserflasche fiel ihr aus den Händen und zersprang mit lautem Klirren. Mit beiden Händen umklammerte sie die Arbeitsplatte, um nicht in die Scherben und die Pfütze zu fallen. «Das hat Helga missverstanden», erklärte sie. «Philipp musste nach Genf. Er hatte mich gefragt, ob ich das übernehmen
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