Die Luft, die du atmest
geliebt. Ich hab geglaubt, es ist ein richtiges Auto.»
«Erinnerst du dich noch an dein Steckenpferd? Das war für dich auch ein richtiges Pferd.» Ann schob das Bild unter die Klarsichtfolie im Fotoalbum. Kate hatte dem Pferdchen hinten im Garten stundenlang Sprünge beigebracht, die Entschlossenheit einer strengen Dresseurin im Gesicht.
«Ja, klar. Michele hatte auch eins.»
Kate sprach den Namen ihrer Freundin ganz beiläufig aus. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Maddie wühlte im Schuhkarton und entdeckte etwas Neues. «Wann hatte Dad denn einen Bart?»
Ann nahm das Bild und betrachtete den jungen Peter vor einem Weihnachtsbaum aus längst vergangener Zeit. «Da hatteer Keuchhusten. Er war zu schwach, um sich zu rasieren. Du warst damals noch ein Baby, Schatz.»
Auch damals hatte er wahnsinnig abgenommen. Wie in diesen letzten Wochen. Seine Wangen waren eingefallen gewesen, und sein Dreitagebart hatte das noch betont. Jetzt behauptete er, es gehe ihm gut. Sie hatte versucht, herauszuhören, ob er etwas vor ihr verbarg, aber sie konnte nichts ausmachen, das ihr Sorgen bereiten müsste. Bestimmt ging es ihm wirklich gut. Nur ein paar Stunden mussten sie noch abwarten.
Ann merkte, dass die beiden Mädchen still geworden waren. Sie saßen stumm zwischen den ausgebreiteten Fotoalben. Jacob hatte einen Umschlag erobert und nuckelte an einer Ecke. Sanft entzog sie ihn seinem Griff. «Hey», sagte sie. «Daddy ist wieder gesund geworden. Er ist stark.»
Kate drehte den Kopf. «Ich höre etwas.»
Die Fensterscheiben zitterten. Ein Laster fuhr durch die Straße. Ein großer Laster, dem Geräusch nach.
Sie liefen ins Esszimmer, um nachzusehen. Ann hörte das Garagentor aufgehen und wusste, dass auch Peter hinaussah. Auf der anderen Straßenseite standen Mr. und Mrs. Mitchell auf der dunklen Veranda. Dann lebten sie also noch. Sie standen aneinandergelehnt, in Wolldecken gewickelt.
Ein großer weißer Lastwagen kam vor ihrem Haus zum Stehen. Er sah aus wie ein Umzugswagen, aber die Aufschrift an der Seite war übersprüht worden. Im Führerhäuschen saßen Männer. Der Fahrer sah Ann an. Sie wich zurück. Was wollten sie?
«Kennen wir die, Mom?», fragte Maddie.
Einer der Männer war groß und schlaksig und trug eine blaue Baseballmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Der andere war klein und kräftig gebaut, mit einem Kranz aus grauem Haar. Fremde. Sie trugen weiße Schutzmasken undOveralls. Sie wandten sich ihrem Haus zu. Sie betraten den Rasen und kamen direkt auf die Haustür zu.
«Weg hier, ihr zwei.» Ann warf einen Blick auf den Riegel. Er war zu.
Stiefel knallten auf die Stufen. Durch die schmalen Glasscheiben neben der Tür erkannte sie Schultern. Es klopfte laut.
«Wer ist da?»
«Das Entsorgungsamt. Haben Sie jemand für uns?»
Eine Männerstimme, ungehobelt und rau.
Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. Durch die Maske war er nur undeutlich zu verstehen. «Wen suchen Sie denn?»
«Ma’am, haben Sie jemand für uns?»
Vielleicht konnte auch er sie nicht richtig hören. Sie legte den Mund an die Scheibe. «Sie haben die falsche Adresse.»
«Ma’am.» Der zweite Mann bückte sich und spähte durch die geschliffene Scheibe. «Haben Sie eine Leiche, die wir abholen sollen?»
Das war nicht mehr misszuverstehen. Ann unterdrückte einen Aufschrei.
Erschrocken trat sie von der Tür zurück. «Nein.»
«Es ist kostenlos, Ma’am.»
«Sie sind hier falsch. Gehen Sie weg.»
Er beriet sich mit seinem Partner. Sie sahen sich beide noch einmal um, dann stapften sie die Stufen hinunter. Sie stiegen in den Lastwagen, und der Motor sprang an.
«Was wollten sie, Mom?», fragte Kate.
«Nichts, Schatz.»
Der Lastwagen fuhr an, aber er fuhr nicht weit. Sie hörte immer noch den Motor. Sie ging in den Hobbyraum und schaute dort aus dem Fenster. Jetzt stand der Lastwagen vor dem Hausvon Libby und Smith. Die beiden Männer gingen zur Tür. Sie hörte ihre lauten Stimmen und das Klopfen an der Tür.
«Sie dürfen da nicht einfach reingehen.» Maddie klang empört.
Die beiden Männer verschwanden im Haus. Gleich würde etwas passieren. Etwas, das Kate und Maddie nicht sehen durften. «Los, ihr zwei, kümmert euch um Jacob und sucht euch was zum Spielen. Bleibt von den Fenstern weg.»
«Aber was machen die Männer da?», wollte Kate wissen.
«Kate, Maddie, ihr habt mich gehört. Bitte.»
Widerstrebend drehten sich die beiden um und schlurften davon.
Ann
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