Die Luft, die du atmest
Woche reagiert, mit dem vagen Versprechen, in ihren Kalender zu gucken und sich wieder zu melden. Aber sie hatte es nicht getan. «Dann könnten wir doch etwas für nach Thanksgiving planen. Hast du montagabends nicht immer Yoga? Hannah kann nach der Schule mit zu uns kommen.»
«Das wird nicht gehen.»
Ann blieb stehen. «Rachel, was ist los? Früher war Hannah dauernd bei uns, und auf einmal –»
«Nein, nichts weiter. Ich habe nur den Eindruck, es wäre für die Mädchen gut, auch andere Freundinnen zu finden.»
Sie sagte das leicht dahin, als wäre sie nie anderer Meinung gewesen. Dabei verstanden sich die beiden Mädchen so gut. Seit dem Kindergarten waren sie unzertrennlich. Ann sah Rachel an, aber sie wich ihrem Blick aus. Rachel wusste, dass Maddie keine anderen Freundinnen hatte. Sie wusste, wie Maddie war und dass sie sich nur eine richtige Freundin gesucht hatte, die Hannah hieß. Maddie war nicht wie ihre Schwester, die viele Freundinnen hatte und gern in der Masse verschwand.
«Aha», sagte Ann, obwohl sie gar nichts verstand.
Rachel schob ihre Hände in die Manteltaschen. «Hannahglaubt, sie ist schuld daran, dass Maddie nicht mehr zum Spielen kommen darf.»
«Aber sie weiß doch, dass es nicht an ihr liegt.»
«Hannah ist erst acht. Ganz egal, was wir ihr erklären. Sie begreift nur, dass ihre beste Freundin sie nicht mehr besuchen darf.»
«Maddie ist auch traurig, dass sie nicht mehr bei euch spielen kann.»
«Du weißt, dass sie jederzeit willkommen ist.»
Ann traute ihren Ohren nicht. Rachel wusste ganz genau, dass Maddie nicht mehr zu ihnen kommen konnte. Nicht, solange Hannah eine Katze hatte.
Eines Nachts hatte Rachel sie mitten in der Nacht mit ihrem Anruf aus dem Tiefschlaf geweckt. ‹Hat Maddie irgendwelche Allergien?›, hatte sie ohne jede Vorrede gefragt.
‹Nein›, hatte Ann erwidert, doch beunruhigt durch die Dringlichkeit in Rachels Stimme sofort begonnen, sich anzuziehen. ‹Nicht, dass ich wüsste.›
«Ihre Lunge ist kollabiert», erinnerte Ann sie jetzt. Sie war zwei Nächte im Krankenhaus.»
«Ich weiß», sagte Rachel. «Es war furchtbar. Aber der Arzt hat doch gesagt, es gebe ein Medikament, das helfen könnte.»
«Er hat
vielleicht
gesagt.»
«Das wirst du erst wissen, wenn du es ausprobierst.»
Das konnte Rachel unmöglich ernst meinen. Nach allem, was sie durchgemacht hatte! Sie war mit Maddie in die Notfallaufnahme gerast und hatte um ihr Leben gebetet. «Du weißt, dass ich das nicht könnte.»
Der Wind pustete Rachels Haar aus der Stirn und drückte ihr den Mantelkragen an den Hals. «Ann – meinst du nicht, dass du ein bisschen überängstlich bist?»
War sie das? Vielleicht. Aber wenn sie nur daran dachte, wieihr Kind mit zugeschwollenen Augen um Luft gerungen hatte, schnürte es ihr die Kehle zu.
Rachel seufzte. «Entschuldige. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich an deiner Stelle würde es vermutlich genauso machen.»
Ich an deiner Stelle.
Rachels Betonung der Worte schürte Anns Verdacht, dass es hier um etwas ganz anderes ging. «Wie meinst du das?»
Die Frage war heraus, bevor Ann sich bremsen konnte. Sie wollte es nicht wissen. Sie wollte nicht darüber sprechen.
Rachel wandte den Blick ab. «Du hast nie etwas gesagt. Ich habe immer darauf gewartet, dass du es mir erzählst.»
In Anns Kopf drehte sich alles, als stünde sie an einem Abgrund und sähe hinunter auf schroffe Felsen. Sie musste einen Schritt zurücktreten. Dafür sorgen, dass sie wieder auf sicheres Terrain kamen. «Rachel –», begann sie, doch Rachel achtete gar nicht darauf.
«Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich lieber nichts sagen sollte. Aber wenn wir wirklich Freundinnen wären, hättest du es mir erzählt. Hättest du es wenigstens erwähnt.»
Sie klang vorwurfsvoll. Es ging nicht mehr um Maddie und Hannah. Was war los? Woher wusste Rachel davon?
Rachel verschränkte die Arme. «Als Maddie das letzte Mal bei uns war, hat sie es Hannah erzählt. Als Hannah mir dann davon erzählte, dachte ich zuerst, sie hätte es sich ausgedacht. Wenn es wahr wäre, hättest du es mir erzählt, dachte ich. Als ich vor fünf Jahren die Fehlgeburt hatte, hättest du es mir erzählt.»
«Es war nicht dasselbe», flüsterte Ann.
«Bist du sicher?»
Sie standen auf dem Bürgersteig neben dem Backsteingebäude der Schule, und über ihnen peitschte die Fahne imWind gegen die Stange. Autos fuhren vorbei, aus einem wummerte Musik. Im Park riefen Kinder beim Spielen.
«Was hat
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