Die Luft, die du atmest
dem Zimmer.
Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen. Dahinter war alles still. Zögernd klopfte sie an.
«Ja?»
Das kalte Zimmer war von der Sonne hell erleuchtet. Shazia lag auf dem Bett. Müde richtete sie sich auf.
«Entschuldigung.» Ann blieb in der Tür stehen. «Ich wusste nicht, dass du schläfst.»
«Das macht nichts.» Shazia gähnte und setzte die Füße auf den Boden. «Kann ich was helfen?»
«Die Mädchen und ich wollten fragen, ob du Lust hast, ein Brettspiel mit uns zu spielen.»
«Ach so. Okay.» Sie ließ die Füße in die Flanellpantoffeln gleiten, die sie aus den aussortierten Sachen für die Kleidersammlung gefischt hatten. Das Paar hatte früher Peter gehört. Shazia fasste ihr glänzendes schwarzes Haar zusammen, streifteein Gummi von ihrem Handgelenk und band das Haar zu einem Pferdeschwanz.
Sie war wirklich eine Exotin, mit ihrer glatten Haut und den dunklen Mandelaugen, ihrem dicken Haar und der Art, wie sie ihren Blick langsam auf ihr Gegenüber richtete und ihn dort verweilen ließ. Wusste sie um ihre Wirkung? Ann bezweifelte das. Shazia schien sich kaum um ihr Aussehen zu kümmern, so, wie es nur echten Schönheiten gegeben war.
Ann sah sich im Zimmer um. Ein Koffer unter dem Schreibtisch, ein zweiter an der Wand. Mehr hatte Shazia nicht mitgebracht. Zwei Koffer. Auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto. Ein kleiner Junge mit rundem Gesicht grinste ihr entgegen.
Ann lächelte. «Wer ist denn das?»
«Das ist mein Neffe. Er ist gerade zwei geworden.» Shazia nahm ein anderes Foto vom Nachtschrank neben ihrem Bett. Sie hielt es Ann so hin, dass sie es sehen konnte. «Das sind meine Eltern.»
Ann trat näher und sah einen Mann und eine Frau in eleganter Kleidung an einem Tisch, die sich einander zulehnten und die Hände auf der Leinentischdecke verschränkt hatten. «Ein schönes Paar.»
«Danke.» Shazia strich mit dem Daumen über den geschnitzten Holzrahmen. «Das ist eine Aufnahme vom sechzigsten Geburtstag meines Vaters. Meine Schwester hat mir das Bild geschickt.»
«Sie haben immer noch nichts von ihnen gehört?»
Shazia schüttelte den Kopf.
Zwölf Tage. Ann hatte noch nie so lange nicht mit ihren Eltern geredet. Vielleicht war das bei Shazia und ihrer Familie anders. Vielleicht fanden sie es normal, über längere Zeiträume nichts voneinander zu hören, nur waren die Zeiten alles andereals normal. Dass sie gar nichts von ihnen hörte, konnte nur eines bedeuten. «Hast du deine Mitbewohnerin erreicht?»
«Ja. Das Studentenheim hat auch keinen Strom. Sie muss jedes Mal ins Foyer hinunter, wenn sie telefonieren will, und sie wohnt im vierzehnten Stock, deshalb werde ich vermutlich erst mal eine Weile wieder nichts von ihr hören.» Shazia zuckte die Achseln. «Es scheint ihr aber ganz gutzugehen. Auf ihrer Etage machen sie jeden Tag einen anderen Themenabend. Gestern war Hawaii dran. Heute Kerker und Drachen.»
So war das, wenn ein Haufen junger Leute zwischen zwanzig und dreißig zusammen war, dachte Ann. Blumenkränze und Schwertspiele. Vierzigjährige würden Rezepte und Haushaltsentrümpelungstricks austauschen.
«Sie sagt, es gibt nur im Flur Licht. Sie muss die Tür offen lassen, wenn sie in ihrem Zimmer was sehen will.»
Das klang ja furchtbar. «Hat sie was davon gesagt, ob es Grippefälle gibt?»
In dem Fall würde man in seinem Zimmer bleiben. Man würde sich kaum an den vielen Türen vorbei zum Telefon trauen. Man würde die Tür zumachen und sich mit der Dunkelheit abfinden.
Shazia stellte das Bild wieder auf den Nachttisch. Ann folgte ihr mit dem Blick und entdeckte dort ein offenes Fotoalbum. Es sah aus wie eines ihrer Familienalben. Was machte es hier? Es gehörte ins Wohnzimmer.
Shazia sah ihren Blick und wurde rot. «Entschuldigung. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich hatte nichts zum Lesen.»
«Aber nein.» Neugierig neigte Ann den Kopf, um zu sehen, welches Album sich das Mädchen genommen hatte. Sie sah Bilder von Kiefern, ein verwittertes Gebäude, Männer mit zotteligen Bärten, die in die Kamera grinsten.
Shazia nahm das Album und legte es sich auf den Schoß. «Das ist die Hütte am Sparrow Lake, nicht?»
«Einer von Peters Lieblingsplätzen.» Und da saß er ja auch und grinste, den Unterarm lässig auf das Knie gestützt. Die anderen Männer, alle in Tarnfarben und mit Baseballmützen, standen im Halbkreis um ihn herum.
«Er ist gleich in meiner ersten Woche mit mir rausgefahren, um mich allen vorzustellen. Er hatte
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