Die Luft, die du atmest
allein duschen würde, und bei Kate war es mindestens acht Jahre her. Ann wusste überhaupt nicht mehr, wann Kate sich das letzte Mal selbstvergessen ausgezogen hatteund in die Wanne gestiegen war, kindlich auf den Schaum fixiert und nicht auf ihre Mutter, die zum Aufpassen auf dem Rand hockte. Jetzt stand Kate abgewandt und vor Kälte zitternd da und hielt sich die Hände vor den Oberkörper und die Scham. Sie war dreizehneinhalb und hatte noch keine Periode gehabt. Der Kinderarzt hatte gesagt, es könne jederzeit so weit sein. Aber das war natürlich vorher.
Ann reichte Kate einen Waschlappen und wusch mit dem anderen Maddies Rücken. Ihre Schulterblätter standen hervor, und die Wirbel bildeten eine deutlich sichtbare Knochenkette. Jetzt der Bauch, der vollkommen flach war, und die Höhlungen um die Hüftknochen.
«Mom», sagte Maddie. «Guckst du?»
«Nein.»
Jetzt den Arm, so dünn zwischen ihren Fingern, die knochige Schulter, das zerbrechliche Handgelenk. «Dreh dich um», sagte sie zu Maddie. «Keiner guckt dich an.»
Sie wusch erst ein Bein, dann das zweite. Maddie hatte überall Gänsehaut, die goldenen Härchen standen zu Berge.
«Ich bin fertig», sagte Kate mit klappernden Zähnen. Sie stieg in die Wanne.
Ann gab Maddie den Waschlappen. «Seif dir die Zehen ein», sagte sie und stand auf. Sie tauchte die Schüssel ein und übergoss Kate mit einem Schwall warmen Wassers, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite.
«Jetzt bin ich dran», sagte Maddie. «Mach schnell. Es wird schon dunkel.»
Kate stieg aus und wickelte sich in ein Handtuch.
«Morgen dürft ihr beide euch am Feuer waschen», sagte Ann. «Dad und Shazia können solange im Hobbyraum warten. Und vielleicht können wir euch die Haare im Spülbecken waschen.»
«Jippie.» Kate lief in ihr Zimmer und knallte die Tür zu.
«Ich bin fertig», sagte Maddie. «Du kannst jetzt gehen.»
«Deine Sachen liegen auf deinem Bett», sagte Ann.
Das war etwas, was sie nicht aufgeben würde. Sie faltete ihre Sachen ordentlich zusammen, sorgte für warme Bäder und legte ihre Nachthemden auf dem Bett für sie bereit.
Auf dem Weg nach unten sah sie aus dem Fenster. Draußen färbte sich der Himmel leuchtend orange. Am Horizont standen Federwolken in Dunkelblau und Violett. Wann hatte sie zuletzt einen Sonnenuntergang beobachtet? Um diese Zeit am Abend hatte sie immer so viel zu tun gehabt. Die Mädchen mussten zu ihren Nachmittagsaktivitäten gefahren und wieder abgeholt werden. Dann musste sie Essen kochen, E-Mails checken und Anrufe erledigen, die Schulmahlzeit für den nächsten Tag zusammenstellen und Hausarbeiten beaufsichtigen. Jetzt gab es nichts, was sie davon abhielt, in Gedanken zu versinken und in Erinnerungen. Sie nahm sich eine Wolldecke, die in der Küche über einer Stuhllehne hing, legte sie sich um die Schultern und ging nach draußen.
Zum Schutz vor der Kälte zog sie die Decke fester um sich. Aber die eisige Luft hatte auch etwas Gutes. Sie zeigte ihr, wie dünnhäutig sie war. War es ein Fehler gewesen, sich Peter gegenüber zu öffnen? Es tat weh. Immer noch.
Hinter ihr glitt leise die Tür auf, und plötzlich drang ein Lärmschwall zu ihr heraus – die Mädchen kabbelten sich, und Shazia griff besänftigend ein –, dann ging die Tür wieder zu, und in der Stille näherten sich Schritte. Es war Peter.
«Hast du was dagegen, wenn ich mich dazusetze?», fragte er. Er nahm neben ihr Platz, ohne sie zu berühren.
Zwischen den dunklen Silhouetten der Nachbarhäuser strahlte am Horizont ein schmaler Streifen Himmel lachsrot, und über ihnen schwebte ein zartes Wolkennetz. Die Baumwipfelwaren von zartem Perlmutt umrissen, und noch weiter oben färbte sich alles tief violett.
«Beth hat nicht wieder angerufen.» Die Fahrt dauerte drei Stunden, und ihr letzter Anruf war schon sieben Stunden her. Beth wusste, dass Ann wartete. Beth wusste, dass Ann von ihr hören wollte, sobald sie in der Klinik waren.
«Vielleicht sind sie noch nicht angekommen.»
«Was können sie für Mom tun?»
«Sie beatmen und ihr antivirale Medikamente geben.»
Wenn sie überhaupt welche hatten. Und vielleicht nicht einmal dann. Ihre Mutter gehörte keiner der Gruppen an, die bevorzugt behandelt wurden. Sie war kein Erstversorger. Sie war keine Politikerin. Sie war keine Wissenschaftlerin, die Heilmittel erforschte. Sie war bloß eine pensionierte Lehrerin. Ein Niemand. Wie alle anderen Menschen, die Ann liebte.
EINUNDZWANZIG
Peter trat hinaus
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