Die Luft, die uns traegt
Weile in Betracht gezogen. Nachdem sie allerdings nach einem Jahr mit Hormonbehandlungen nicht schwanger geworden war, entschied sie, dass ihr Herz eigentlich der Arbeit gehörte. In den ersten Jahren hatte Scarlet den Wunschtraum, mehrere kleine, Gedichte liebende Babys mit Alex zu bekommen. Es war ziemlich leicht, den hochbezahlten Anwalt mit Haus auf Nantucket aus ihrer Collegezeit durch einen anständig bezahlten Lektor mit diversen Freunden in den Hamptons zu ersetzen.
Vielleicht war er auch eine Vaterfigur. Dieser Ansicht waren einige von Scarlets Freunden, darunter Lou – weniger wegen seines Alters (er war nur zehn Jahre älter als Scarlet) als wegen seines Erscheinungsbildes: Seine Ähnlichkeit mit Tom war auffallend. Er hätte ein »schwarzer Ire« sein können, wie Tom sich gern nannte, mit seinen dunklen Augen und dem lockigen dunklen Haar. Dabei war er in Wahrheit Jude. Außerdem hatte er den sinnlichsten Mund, den Scarlet je gesehen hatte. Viel vollere Lippen als Tom, wie sie Lou gegenüber mehrfach betonte. An jenem ersten Abend konnte sie
den Blick nicht von seinem Mund abwenden, diesem Mund, der in so gedämpftem, beinahe ehrfürchtigem Tonfall darüber sprach, wie tief ihre Gedichte ihn berührt hatten.
Er konnte arrogant wirken, das wusste Scarlet, sogar kalt. Auch das führte Lou gern ins Feld. »Seit wann findest du Arroganz bei Männern unattraktiv?«, fragte Scarlet sie schließlich, was Lou eine Zeitlang zum Schweigen brachte. Cora zeigte natürlich mehr Verständnis, wie es ihre Art war. »Du wirst schon herausfinden, was du tun musst«, sagte sie während Scarlets häufigen tränenreichen Besuchen in Cider Cove während dieser Zeit nur zu ihr. Scarlet wusste, dass Cora damit meinte, sie würde über kurz oder lang einen Weg finden, Alex zu verlassen. In dieser Hinsicht war Cora deutlich zuversichtlicher als sie selbst.
Addie und Tom hielten sich heraus – wie sie es immer schon getan hatten. Im ersten Jahr hielt Scarlet ihre Beziehung zu Alex vor ihnen geheim. Sie fürchtete ihre Missbilligung, was ihr später merkwürdig vorkam. Auf die Dauer aber schien es sinnlos, die Affäre zu verschweigen, da sie mittlerweile einen so großen Raum in ihrem Leben einnahm. Also lud sie eines Abends, als Addie und Tom in New York zu Besuch waren, Alex ebenfalls zum Essen ein. Er war natürlich charmant. Scarlet konnte sehen, dass Tom ihn mochte, wobei Addie (wie immer, wenn es um die Männer in Scarlets Leben ging) etwas zurückhaltender war. Als Scarlet ihren Eltern beim nächsten Zusammentreffen erzählte, dass Alex verheiratet war, war Tom sichtlich erschüttert. Addie nickte nur und sagte: »Das dachte ich mir.«
Einige Monate später verbrachte Alex ein Wochenende mit Scarlet bei Cora. Immerhin gab es wahrscheinlich keinen unverfänglicheren Ort für die beiden als ein stilles, unscheinbares Städtchen an der Küste von Jersey. Lou war an jenem Wochenende auch da, ebenso wie Tom und Addie. Jeder behandelte
Alex herzlich. Binnen kurzem war er für jeden Scarlets Freund, schlicht und einfach. Selbst sie konnte hin und wieder vergessen, dass er für sie nicht vollständig zur Verfügung stand. Manchmal kam es Scarlet so vor, als hätte sich das Leben einfach verschworen, damit sie bei ihm blieb. Zum Beispiel kam sie einmal, kurz nachdem ihr Buch erschienen war, nach Hause und fand eine aufwühlend vertraute Stimme auf dem Anrufbeantworter vor. Es war Bobby, und er klang verblüffend ähnlich wie in jenem Sommer, als sie aus Cider Cove weggezogen war. Danach hatte sie ihn ein paar Mal gesehen, wenn sie zufällig beide bei Cora zu Besuch waren. Er war wie geplant in Albany aufs College gegangen, und ein Jahr nach seinem Examen hatte er seine Freundin geheiratet, ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen namens Cynthia aus Long Island. Scarlet war bei ihrer Hochzeit im Haus von Cynthias Vater in Patchogue dabei gewesen.
Über die Jahre hatte Cora sich Sorgen um Bobbys Trinkerei gemacht. Scarlet wusste nicht, ob Cora auch etwas von seinem Drogenkonsum ahnte. So wie sie Cora kannte, hatte sie das wahrscheinlich absichtlich nicht bemerkt. Doch Bobby schien es in den Jahren nach dem College gut zu gehen. Er hatte einen guten Job als Anlageberater, und er und Cynthia hatten sich ein Haus bei Princeton gekauft. Sie hatten eine kleine Tochter, und als Bobby Scarlet an jenem Dezembertag 1996 anrief, war Cynthia mit dem zweiten Kind schwanger.
Ein paar Tage später trafen sie sich in einer Bar unweit seines
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