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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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verbrachten
Jahre schrieb sie den Rest der Gedichte, die später in ihrem Buch veröffentlicht würden. Alles strömte auf sie ein: ihr Leben mit Addie und Tom, Cider Cove, Richard, Cora. Und viele dieser Gedichte fanden einen Ruhepunkt im Körper oder im Gesang eines bestimmten Vogels. Bis dahin war Scarlet nicht bewusst gewesen, wie viel sie von Addies und Toms großer Passion in sich aufgenommen hatte.
    Sie spielte sogar mit dem Gedanken, ihr Buch, das im folgenden Herbst erscheinen sollte, Ontogenese rekapituliert Phylogenese zu nennen, als eine Art Hommage an Tom und gleichzeitig auch als versteckte ironische Anspielung darauf, dass wir uns alle im Endeffekt zu unseren Eltern entwickeln – wenn das natürlich auch überhaupt nicht das war, was Ernst Haeckel damit gemeint hatte.
    »Nenn dein Buch bloß nicht so, mein Schatz«, entgegnete Tom, als sie ihm von dem Einfall erzählte. »Du hast Haeckel immer noch nicht richtig begriffen, fürchte ich.«
    Damals saßen sie in einem Café auf der Greene Street in SoHo. Um die Ecke war Addie in einer Galerie auf dem West Broadway damit beschäftigt, ihre Werke für eine Ausstellung aufzubauen. Es war der Winter 1996, und Scarlet war im vergangenen Sommer nach New York gezogen, in eine kleine, aber gemütliche Wohnung in der Upper West Side, die sie für einen Spottpreis gemietet hatte. Das war noch ein positiver Nebeneffekt, wenn man Addie und Tom Kavanaghs Kind war: Die Wohnung gehörte einem weiteren vogelverrückten Bewunderer ihrer Eltern.
    Scarlet zog es vor, wegen Toms Reaktion auf ihren Titelvorschlag nicht beleidigt zu sein. Er hasste New York, das wusste sie. Irgendetwas an der Stadt machte ihn immer reizbar.
    Selbst Addie wirkte während der Woche der Ausstellungsvorbereitung erschöpft von all der Aufmerksamkeit und dem
Rummel um ihre Person seit dem Eklat mit Senator Swenson zwei Jahre vorher. Sowohl Tom als auch Scarlet machten sich Sorgen um ihren Gesundheitszustand, obwohl keiner von beiden davon sprach. Sie waren erleichtert, als Addie nach den Vorbereitungen verkündete, sie wolle weg aus New York, wolle sogar die Vernissage schwänzen. »Lou kann die kultivierte Gastgeberin spielen«, sagte sie. »Sie wird das viel besser machen, als ich es könnte.« Außerdem schlug sie Tom vor, für das kommende Jahr den lange verschobenen Forschungsurlaub zu beantragen. »Wie wäre es, wenn wir uns irgendwo weit weg eine Zeitlang vor all dem verstecken«, sagte sie, »und Scarlet in ihrem neuen Leben und ihrem Buch schwelgen lassen, ohne ihr ständig im Nacken zu sitzen?«
    Scarlet hatte das Gefühl, dass es Addies Ruhm war, aus dem Alex, Scarlets Lektor, Kapital schlagen wollte, als er ihr empfahl, einen Titel mit einem Bezug zu Vögeln zu suchen. »Immerhin ist diese ganze Vogelsache Teil deiner Arbeit«, sagte er. Alex hatte Addies Texte gut und einfühlsam lektoriert, sie arbeiteten seit der Bekanntgabe des Literaturpreises für Scarlets Buch im Frühling 1995 zusammen. Und sie schliefen seit dem darauffolgenden Sommer miteinander, als Scarlet nach New York gezogen war und er sie zwei Tage nach ihrer Ankunft zum Essen eingeladen hatte.
    Am Ende einigten sie sich auf All der Schmutz und die Zerstörung als Titel und auf das Gemälde Little Known Bird of the Inner Eye von Morris Graves als Umschlagbild. Alex stimmte Scarlet zu, dass etwas von Kollwitz, oder natürlich auch von Addie, zu offensichtlich wäre. Genau mit diesem Werk von Graves verführte er sie sogar, indem er ihr an dem Abend, als er sie zum Essen einlud, ein Foto davon zeigte.
    Alex’ Ehe mangelte es schon länger an Energie und Leidenschaft, erzählte er ihr an diesem ersten Abend. Er und seine
Frau blieben aus einer Art Loyalität zusammen, zu ihren Familien wie auch zueinander. Sie arbeitete ebenfalls im Verlagswesen, in hoher Position in einem anderen Haus, und war früher einmal seine Lektorin gewesen. Denn er hatte selbst auch zwei Gedichtbände veröffentlicht. Doch als er Scarlet kennenlernte, sahen seine Frau und er sich kaum noch. Sie arbeitete rund um die Uhr und war ständig ohne ihn auf Reisen. Jeder von beiden hatte eine Reihe von Affären gehabt, und beide schienen das für ein praktikables Arrangement zu halten.
    Wie andere vor ihr in dieser Reihe bildete Scarlet sich eine ganze Zeitlang ein, sie wäre diejenige, für die er seine Loyalitäten endlich wechseln würde.
    Unter anderem sagte Alex oft zu ihr, dass er sich wirklich Kinder wünsche. Er und seine Frau hatten das eine

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