Die Luft, die uns traegt
sagte es aber nicht. »Aber ich denke immer noch an ihn und an dich und unsere gemeinsamen Sommer.«
Da ließ er ihre Hand wieder los, sah ihr aber weiterhin in die Augen, als suchte er etwas. Sie hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Sein Atem kam ihr plötzlich unmäßig laut vor – laut und schnell.
»Da drin ist ein Gedicht, in dem es auf eine Art auch um Richard geht«, sagte Scarlet schließlich, wandte den Blick ab und schlug das Buch auf. »Es heißt Der Gesang der Rohrdommel .«
»Für Bobby«, schrieb sie daraufhin auf die erste Seite. »In Erinnerung an Cider Cove und Richard und unsere Mitternachtsausflüge auf den Friedhof.«
»Ich werde es lesen«, sagte er, als sie ihm das Buch zurückgab. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber ich werde es lesen.«
Sie stand auf und küsste ihn rasch auf die Wange. »Das glaube ich dir«, sagte sie, obwohl das nicht stimmte.
Vor der Bar blieb sie kurz stehen und machte ein paar tiefe Atemzüge. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, und die engen Straßen des Bankenviertels waren glitschig und glänzten im Licht, überall drängten sich Taxis und unter Schirme gekauerte
Menschen. Sie hatte diese Gedichte geschrieben, sagte sie sich, als sie dort stand und das alles einatmete, und sie hatte diese Zeit – Bobbys tägliche Zurückweisungen, Coras stille, einsame Tränen in der Nacht, Addies Wahnsinn, ihre eigenen albtraumhaften Visionen von Richards Tod – hinter sich gelassen. Sie musste jetzt nach Hause gehen und diesen ganzen Abend schnell vergessen.
Als sie sich umdrehte, um zum Eingang der U-Bahn an der Ecke zu laufen, warf sie einen Seitenblick in das Fenster rechts neben sich und sah, dass Bobby sich an die Theke gesetzt hatte, einen weiteren Wodka Tonic in der Hand.
Es dauerte Jahre, bis sie wieder von ihm hörte. Und Scarlet hakte dieses merkwürdige Treffen ab und gewöhnte sich in den letzten Jahren des Millenniums in einen einigermaßen friedlichen Alltag ein. Einen Alltag, der nur gelegentlich von Anfällen von Einsamkeit unterbrochen wurde – spätnachts, wenn sie plötzlich die Verzweiflung über ihre Situation überfiel (seit Monaten kein Gedicht geschrieben, nichts als eintönige Auftragsarbeit und eine seltsame Hörigkeit diesem Mann gegenüber, der so tat, als ob er sie liebte, aber trotzdem keine Beziehung mit ihr eingehen wollte oder konnte). Das waren die Nächte, in denen sie sich ein Auto mietete und zu Cora fuhr. Egal welche unchristliche Uhrzeit, Cora ging immer ans Telefon und stand auf, um die Tür zu öffnen und ein Bett zu beziehen. Morgens dann begrüßte sie Scarlet mit einer Tasse Kaffee, bereit, ihr wieder einmal geduldig und ohne viele Worte zuzuhören, während Scarlet sich über ihr trauriges Leben ausheulte.
Von Zeit zu Zeit versuchte sie, einen neuen Mann kennenzulernen. So schwierig war das im Prinzip gar nicht. New York bot reichlich Gelegenheiten: beim morgendlichen Joggen im Central Park, bei Lesungen in kleineren Buchhandlungen,
selbst einmal, als sie als Geschworene an einem Prozess teilnehmen musste, wo sie einem Liedermacher und einem Computerprogrammierer begegnete, die sie beide im Abstand von fünf Minuten auf einen Kaffee einluden, der unverfänglichsten aller ersten Verabredungen. Außerdem wurde Scarlet hin und wieder zu einer Party in der Verlagswelt eingeladen, zu der sie mit, aber nicht richtig mit Alex ging. Sie trafen immer getrennt voneinander ein, und wenn seine Heimlichtuerei sie wieder einmal ganz besonders ärgerte, zog Scarlet ein boshaftes Vergnügen daraus, genau vor seiner Nase einem anderen Mann ihre Telefonnummer zu geben.
»Du lässt dir einen Heiden spaß entgehen«, sagte Lou am Silvesterabend 1999 zu ihr. Sie und Scarlet verbrachten den Abend in Cider Cove. Addie und Tom, offenbar frisch verliebt – ineinander und erneut in die Vögel –, waren über die Feiertage nach Costa Rica gefahren. Scarlet hatte nicht in New York bleiben wollen, was weniger an der drohenden Jahrtausendwende lag als an einem Gefühl, dass das Leben irgendwie an ihr vorbeizog.
»Ganz zu schweigen davon, dass du deine sexuelle Blütezeit vergeudest«, ergänzte Lou. Scarlet verdrehte die Augen. Schlimm genug, Lou Begriffe wie »sexuelle Blütezeit« verwenden zu hören. Zu allem Überfluss musste sie noch die Peinlichkeit ertragen, dass Lou schon leicht lallte. Andererseits war sie selbst auch nicht mehr sonderlich nüchtern. Daher vielleicht ihr Entschluss, sich zur Abwechslung mal zur Wehr zu
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