Die Luft, die uns traegt
Weg.
Es war nicht die Frauenforschung, die Scarlet umstimmte. Es war Käthe Kollwitz – und indirekt Addie und Cora. Addie, die mit Sicherheit wusste, dass Scarlet ein Buch wie die Tagebuchblätter und Briefe nicht lesen würde, wenn sie es ihr selbst schickte (sie hatte es im Laufe der Jahre oft genug probiert, mit Rachel Carson, dann mit Autoren wie Aldo Leopold, Jessica Mitford, Wendell Berry). Und Cora, die den Band gut sichtbar auf den Wohnzimmertisch hätte legen können, ihn aber stattdessen – zusammen mit Addies knappem, kryptischem Brief – halb versteckt unter einem Stapel Bücher in ihrem Arbeitszimmer ließ. So fand Scarlet ihn natürlich und las ihn heimlich.
1941 schrieb Kollwitz in ihr Tagebuch, dass »anfänglich in sehr geringem Maße Mitleid, Mitempfinden mich zur Darstellung des proletarischen Lebens zog, sondern dass ich es einfach als schön empfand«. Auf Scarlet hätte das möglicherweise selbstgefällig und herablassend gewirkt, wenn sie es nicht, auf einer emotionalen Ebene, auch hätte nachvollziehen können. Wenn ihr nicht die Aushilfen und Geschirrspüler und Zimmermädchen im Gasthof, von denen viele illegale Einwanderer aus Guatemala waren, freundlicher, interessanter – und ja, schöner – erschienen wären als Nates Freunde und Familie, ehrlicherweise sogar als Nate selbst.
Und wenn sie nicht eines Morgens im August übernächtigt und verkatert nach einer durchzechten Nacht mit Nate und seinen Freunden aufgewacht wäre, angewidert vom mechanischen Sex am Morgen mit ihrem immer noch betrunkenen Freund, der, hatte Scarlet das Gefühl, auch ein Möbelstück
hätte rammeln können, dem Interesse und der Zuneigung nach, die er an den Tag legte. Später am selben Vormittag trat sie auf das Motorboot, mit dem sie und Nate zu seiner weiter draußen in der Bucht ankernden Segeljacht fahren wollten, warf nur einen Blick auf die ölige Schmutzwasserpfütze zu ihren Füßen und übergab sich auf der Stelle über den Bootsrand.
Sie und Nate hatten sich nach jenem Morgen, als Scarlet ohne ein Wort aus dem Boot stieg, zurück in ihr Bett ging und einschlief, nur noch wenig zu sagen. Am selben Abend kletterte sie nach ihrer Schicht im Restaurant aus dem Fenster ihres Zimmers und setzte sich auf den Klappstuhl auf der Feuerleiter, wo ihre Zimmergenossinnen, die beide inzwischen ihre Jobs gekündigt hatten und abgereist waren, immer geraucht hatten. Es war eine wunderschöne Nacht, der Mond war voll, und am Himmel funkelten die Sterne, und Scarlet blieb bis zum Morgengrauen dort sitzen, das Notizbuch auf den Knien, und schrieb.
Mit diesem Tag begann Scarlet, sich zu verändern – oder vielleicht weniger, sich zu verändern, dachte sie manchmal, als schlicht zu akzeptieren, wer sie wirklich war. Eine angehende Dichterin. Tom und Addie Kavanaghs Tochter. Nicht sonderlich normal. Addies Krebs trug ebenfalls zu dieser Entwicklung bei, obwohl Scarlet den Großteil ihres vorletzten Jahres auf dem College, dem Jahr der Diagnose und Behandlung, so tat, als wäre nichts. Doch jedes Mal, wenn ein Termin beim Onkologen anstand – ein aufgeladener, ein »Was versuchen wir als Nächstes?«-Termin –, dann war Scarlet auf Toms Bitte hin dabei.
Wenig überraschend konnte Addie mit rosa Schleifen und Teddys nichts anfangen, oder mit wohltätigem Walken und Joggen. »Die Krankheit besiegt man sicher nicht dadurch, dass man sie niedlich und pink aussehen lässt«, sagte sie, als Scarlet
mit einem Anti-Brustkrebs-T-Shirt nach Hause kam und es aus Versehen eines Morgens in der Küche trug.
Scarlet ging seit ihrem letzten Sommer in Cider Cove regelmäßig joggen. Sie lief keine Wettbewerbe, aber während des Frühjahrssemesters, als Addies Chemotherapie sich dem Ende zuneigte und sie sich wieder in ihre Arbeit stürzte, hatte Scarlet sich für den örtlichen Wohltätigkeitslauf »Race for the Cure« angemeldet. Es würde, beschloss sie, ihre persönliche Mahnwache für und Hommage an ihre Mutter sein, die sie kaum wiedererkannt hatte, als sie in den Weihnachtsferien zu Hause war.
Scarlet hatte Addie zu keiner einzigen Behandlungssitzung begleitet. Sie bildete sich gern ein, das hätte daran gelegen, dass Addie sich weigerte, sie mitzunehmen. Was auch gut möglich gewesen wäre, wenn Scarlet gefragt hätte. Addie wollte unbedingt, dass ihre Tochter während dieser Zeit ihr Leben am College normal weiterführte und keine zusätzlichen Fahrten nach Burnham unternahm. Doch in Wahrheit bat Tom Scarlet nie
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