Die Luft, die uns traegt
Büros im World Trade Center. Scarlet erkannte Bobby kaum, als er durch die Tür kam. Er hätte einfach einer der vielen glatten, grauen Anzugträger sein können. Doch dann sah sie sein Gesicht – dieselben dunklen, nachdenklichen Augen, die so gar nicht zu dem sorgsam verbindlichen Lächeln darunter passen wollten, das er aufgesetzt hatte.
Sie umarmten einander etwas verlegen, dann sagte er: »Tut mir leid, ich habe dein Buch noch nicht gelesen, Scarlet. Werde ich aber – es ist nur momentan ein bisschen heftig, mit dem Job und der Familie und allem. Aber ich habe es fest vor. Es muss ziemlich aufregend für dich sein, ein Buch veröffentlicht zu haben.«
Scarlet wehrte sein Lob und seine Entschuldigungen mit einer Handbewegung ab. Mittlerweile war sie an solche Begrüßungen gewöhnt.
Dann zog er ein Exemplar ihres Gedichtbands aus der Manteltasche und legte es zwischen sie auf den Tisch. »Signierst du es trotzdem für mich, bevor wir nachher gehen?«
Auch daran war Scarlet gewöhnt. »Klar.« Sie versuchte, so dankbar zu lächeln, wie sie konnte. »Es war wirklich süß von dir, es zu kaufen.« Während sie gleichzeitig überlegte: Und was soll ich in dieses Buch schreiben? »Für die Liebe meiner einsamen Jugendjahre. Danke, dass du mich entjungfert hast.«?
Etwa eine Stunde lang machten sie höflichen Smalltalk – über Bobbys Familie, Scarlets Zeit in Neuengland, Cora und ihre Pension, Addies plötzlichen Ruhm.
»Jetzt will sie sich offenbar einfach nur mit Tom in Burnham verstecken«, sagte Scarlet. »Ich glaube, der ganze Wirbel hat sie beide angestrengt. In ein paar Wochen fahre ich sie besuchen. Zu Weihnachten.«
Bobby nickte und bestellte sich seine dritte Runde. Scarlet saß noch an ihrem ersten Bier.
»Fährst du über die Feiertage zu Cora?«, fragte sie hilflos. Worüber unterhielt man sich mit einem Anlageberater?
Er trank einen Schluck und nickte. »Ja, wobei wir nur am Heiligabend dort sein werden. Am ersten Feiertag fahren wir zu Cynthias Eltern auf Long Island. Mama meint, das sei in Ordnung, angeblich ist sie gern an diesen großen Familienfesten
allein.« Er zuckte die Achseln. »Wer weiß, ob sie das ehrlich meint? Du kennst ja meine Mutter.«
Das klang schon eher nach dem Bobby, den Scarlet früher kannte, dachte sie – klarsichtiger, als gut für ihn war, und angesichts all dieser Klarsichtigkeit zynisch. Das Gespräch holperte weiter, sie kamen auf ihre Jugend zu sprechen und lachten bei der Erinnerung an das Weihnachten elf Jahre zuvor, als sie beide mit ihren neu erworbenen Platten aus dem Einkaufszentrum zurückgekehrt waren und ihre Eltern rätselhaft schweigend vorgefunden hatten, eingefroren in eine Art trostloses Tableau, beide Mütter verstohlen Tränen wegwischend.
Erstaunt stellte Scarlet fest, dass Bobby keine Anzeichen von Betrunkenheit zeigte, obwohl er in der einen Stunde, die sie in der Bar saßen, bereits vier Wodka Tonic geleert hatte. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, aber aus irgendeinem Grund nicht zu können.
Als die Rechnung kam, zückte er eine Kreditkarte und schob den Fünfdollarschein beiseite, den Scarlet anbot. Während er den Beleg unterschrieb, zog sie schon Mantel und Handschuhe an, ungeduldig, in die kalte Abendluft Manhattans zu entfliehen. Wenn Eheleben und ein Eigenheim vor den Toren der Stadt so aussahen, dachte sie – das Trinken, der graue Anzug, keine interessanten Gesprächsthemen –, wollte sie damit nichts zu tun haben.
Sie war im Begriff zu gehen, als er sie an der Hand festhielt. »Warte«, sagte er. »Du hast mein Buch noch nicht signiert.«
»Ach, ja!« Sie lachte nervös und setzte sich noch einmal. »Das hatte ich völlig vergessen.« In Wahrheit hatte sie es nicht vergessen, sondern gehofft, er würde nicht mehr daran denken. Im Geiste sah sie ihren Gedichtband auf Bobbys und Cynthias blitzblankem Couchtisch in ihrem blitzblanken Wohnzimmer liegen, ungeöffnet und ungelesen. Während
sie noch in ihrer Tasche nach einem Stift wühlte und sich den Kopf nach einer unverfänglichen, aber doch hinlänglich freundlichen Widmung zerbrach, nahm Bobby wieder ihre Hand. Seine Augen hatten einen gequälten Ausdruck, als sie zu ihm aufsah.
»Denkst du jemals an Richard?«, fragte er.
Vor Schreck verschlug es Scarlet einen Moment die Sprache. »Ja«, antwortete sie ehrlich, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Ja, Bobby, das tue ich. Nicht so oft wie früher einmal.« Und nicht so grausig anschaulich, dachte sie,
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