Die Luft, die uns traegt
mitzukommen, und sie bot es nie von sich aus an.
Aus irgendeinem irrigen Grund wollte Scarlet an jenem Morgen im Frühsommer bei ihrem ersten Besuch seit zwei Monaten, dass Addie ihr »Race for the Cure«-T-Shirt sah. Es waren wenigstens keine Teddys darauf abgebildet. Aber doch eine Schleife, und die Worte »Race« und »Cure« leuchteten neonpink. Als sie Addies Reaktion auf das T-Shirt hörte, wollte Scarlet wieder loslaufen, dieses Mal aus dem Haus und in ihr Auto – vielleicht zurück in die relative Sicherheit von Cider Cove.
»Entschuldige, Addie«, sagte sie und trat vom Herd zurück, an dem ihre Mutter stand und in einem Topf Haferbrei rührte. »Ich hab nicht nachgedacht – ich geh mich umziehen.«
Addie hielt sie fest, ihre abgemagerte Hand blieb auf der
Schulter ihrer Tochter liegen. Scarlets Blick fiel auf den Streifen heller Haut an Addies Finger. Sie hatte ihr einziges Schmuckstück abgelegt, den goldenen Ehering, der nun zu groß war. Scarlett wurde bewusst, dass sie noch nie die Hand ihrer Mutter ohne diesen Ring gesehen hatte.
»Du musst dich nicht umziehen, Scarlet«, sagte Addie, legte einen Deckel auf den Haferbrei, ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und griff nach der Zeitung. »Tut mir leid, das muss sich undankbar und gemein angehört haben.« Sie schlug die Zeitung auf, legte sie vor sich auf den Küchentisch und stützte den Kopf in die Hand. »Klinge ich oft so?« Sie blickte zu Scarlet auf. Natürlich kannte sie die Antwort. Tom hatte Addie in den vergangenen Monaten wiederholt darauf hingewiesen, dass sie sich wenigstens bemühen könnte, Dankbarkeit für die Gesten anderer Leute zum Ausdruck zu bringen. Scarlet starrte auf die Tischplatte, unsicher, wie sie reagieren sollte. Schmeichelnde, versöhnliche Beschwichtigungsgeräusche würden bei Addie nicht gut ankommen, das wusste sie.
»Manchmal«, antwortete sie schließlich.
Lächelnd sah Addie Scarlet an, die plötzlich die Tränen in den Augen ihrer Mutter bemerkte. »Es tut mir ehrlich leid, Scarlet«, sagte sie. »Ich habe nur einfach das Gefühl, dass wir alle krank sind, krank vor lauter Gewissheiten über den Krebs und albernen Selbstbestätigungen, all unseren Teddys und rosa Schleifen. Und gleichzeitig führen wir unser Leben fort wie immer, vergiften uns selbst und unsere Kinder, machen alles immer noch schlimmer.«
Es war das erste Mal, dass Scarlet erkannte, wie aufrichtig weh ihrer Mutter das alles tat. Wie vermeidbar ihr eigenes Leiden und das jedes anderen Krebskranken ihrer Meinung nach war, wenn doch die Menschen nur die Augen öffnen und begreifen würden.
Weniger als ein Jahr später sah Scarlet »intelligente Bomben« über einen Fernsehschirm rasen, im Stil eines Videospiels. Sie verschleierten die Wahrheit, dass die meisten der im Golfkrieg eingesetzten Bomben – wie jene auf einen Luftschutzbunker im Bagdader Vorort Ameriyaa abgeworfene, die über zweihundert Zivilisten tötete, viele davon Kinder – ganz offenbar doch nicht so intelligent waren. Da fielen ihr die Worte ihrer Mutter wieder ein. »Krank vor Gewissheit«, murmelte sie unablässig vor sich hin. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass Vögel den furchtbaren Einschlag einer Bombe vorausahnen können und Sekunden vor der Explosion in die Luft steigen und fliehen. Um genau zu sein, konnte Scarlet sich nicht mehr erinnern, ob sie es gelesen oder geträumt hatte. Wo auch immer es herkam, sie erkannte, dass sie hier ganz plötzlich den groben Entwurf eines Gedichts vor sich sah.
Eineinhalb Jahre lang schrieb sie an Krank vor Gewissheit – bis ihr netter, bärtiger Freund, der starke und sensible Kevin, eines Tages verkündete, er werde aus ihrem gemeinsamen Zimmer in dem zugigen alten Bauernhof in Vermont, den sie mit sechs weiteren Freunden bewohnten, aus- und in das zwei Türen weiter einziehen. Um das Bett mit Gianna zu teilen, zu der er sich, wie es aussah, schon seit drei Monaten schlich, wenn er Scarlet mit seinen süßen Schlummerliedern in den Schlaf gewiegt hatte.
Eine Zeitlang machte Scarlet sich Sorgen, dass echte Gedichte – gute, nicht die unzähligen verzichtbaren, an denen sie in ihren Notizbüchern herumbastelte – ihr nur gelängen, wenn ihr das Herz gebrochen wurde. Doch ihre Erfahrungen, nachdem sie aus dem Bauernhof ausgezogen und sich im Herbst 1992 an der Uni für einen Schreibstudiengang eingeschrieben hatte, sprachen dagegen. Während dieser drei, im Hinblick auf Männer im Wesentlichen enthaltsam
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